: Michal Hvorecky
: Das allerschlimmste Verbrechen in Wilsonstadt
: Tropen
: 9783608100648
: 1
: CHF 3.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 60
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Von teuflischen Verschwörern und lebenden Toten gejagt, gerät er immer tiefer in ein Straßenlabyrinth des Grauens, in dem der Satan selbst die Krieger der Finsternis zu befehligen scheint. Unversehens entbrennt ein dramatischer Wettlauf um Leben und Tod, bei dem die Beteiligten nach und nach jegliche Skrupel verlieren. Michal Hvorecky erzählt eine Gruselgeschichte in der vergessenen europäischen Stadt, indem er gut gelaunt mit den Formen des parahistorischen Gothic Novel spielt. Er schildert, wie sich reale Ereignisse und irrationale Ängste nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie zu einer Massenparanoia ungekannten Ausmasses ausweiten. Und zeichnet eine groteske, verlorene Welt, eine Welt, die dem Untergang geweiht ist und in der sich die Gegenwart seltsam spiegelt.

Michal Hvorecky, geboren 1976, lebt in Bratislava. Auf Deutsch erschienen bereits drei seiner Romane und eine Novelle. Hvorecky verfasst regelmäßig Beiträge für die FAZ, Die Zeit und zahlreiche Zeitschriften. In seiner Heimat engagiert er sich für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen.

III


Am nächsten Tag schneite es nicht. Die Sonne kam heraus und warf goldene Schimmer an den blauen Himmel. Die Dächer glänzten rot. Doch es hörte nicht auf zu frieren.

In der Mordabteilung des Polizeikommissariats in der Vámbérystraße herrschte ungewöhnliche Ruhe. Ein zufälliger Beobachter hätte diese Dienststelle in einer Ecke des zweiten Stockwerks als sterilen Raum mit langen braunen Pulten und grünen, bis an die Decke reichenden Schränken wahrgenommen. Der flackernde Tag vibrierte im Messing an den Rahmen der aus dem Staatssäckel bezahlten Bilder und auf den Fenstergriffen und Türklinken. Der Fernschreiber ratterte beim Versenden der Nachricht vom Tod des jungen Mädchens an die drei wichtigsten Lokalzeitungen, dieWilsonstädter Zeitung, denWestungarischen Grenzboten und dieHírlap. In der Mitte des langen Pults stand ein Tablett mit einer riesigen Kanne darauf und die zehn schläfrigen Gendarmen wurden vom Duft des Kaffees in der Nase gekitzelt. Das Telefon klingelte. Leutnant Dohnányi hob ab und antwortete auf Deutsch:

»Hauptkommissariat Wilsonstadt. Bitte? Ja. In Ordnung. Er heißt Jozef Eisner. Er sitzt hier neben mir. Bisher mit niemandem. Gut. Wir werden auf Sie warten. Bestimmt mit keinem, das versichere ich Ihnen. Also gut, in zwei Stunden. Auf Wiedersehen.« Er legte auf.

Der müde und verängstigte Eisner saß abseits von den anderen und verkürzte sich das Warten damit, dass er aus dem Fenster schaute. Er hatte keine Lust zu Gesprächen mit seinen Kollegen. Als er ihnen, verschlafen, wie sie waren, am Morgen erzählte, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, zuckten ihre Mundwinkel. Nicht wegen der Toten da oben. Das glaubten sie ihm. Aber wegen dem, was er später mit dem geheimnisvollen Mann am Fluss erlebt hatte.

Als er auf die hektische, ansonsten aber freundliche und sichere Stadt mit ihrer schimmernden Atmosphäre blickte, wollte er nicht glauben, dass das, was er in der Nacht erlebt hatte, real gewesen sein könnte.

Links stand der ausgedehnte Komplex der Apollo-Raffinerie, der im Süden an den Hafen und das Ausstellungsgelände der Donau-Messe grenzte. Im Westen konnte er von hier aus den Betriebshof der Wilsonstädter Straßenbahn, die Concordia-Druckerei in der Segnerstraße, das Elektrizitätswerk und andere Fabriken sehen. Die belebte Henrich-Justi-Straße wurde schon wieder neu gepflastert. Über die Donau schwangen sich die eisernen Silhouetten der zwei Wilsonstädter Brücken: der Eisernen Brücke und der Pontonbrücke. Das metallische Schimmern der schnellen Autos zeichnete flatternde Striche.

»Wien hat angerufen«, berichtete Dohnányi auf Ungarisch. »Ehrlich gesagt ist das seltsam. Wir haben weiterhin strengstes Verbot irgendetwas zu unternehmen.«

»Aber das ist doch unerhört!«, meldete sich Offizier Martin Hefele zu Wort, der immer einen betrübten Gesichtsausdruck hatte, was eher zum Inhaber eines Beerdigungsinstituts als zu einem Polizeidetektiv gepasst hätte. »Das hier ist nicht London oder Rom oder ein