: Robert Gerwarth
: Die Besiegten Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs
: Siedler Verlag
: 9783641156213
: 1
: CHF 8.00
:
: Geschichte
: German
: 480
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Warum das Ende des Ersten Weltkriegs Europa keinen Frieden brachte

11. November 1918: Der Waffenstillstand beendet das Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Dennoch kehrt in weite Teile Europas kein Friede ein. Robert Gerwarth macht das Ausmaß der Konflikte deutlich und zeigt, warum das Schicksal der Besiegten der Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts ist. Denn die Brutalität des Ersten Weltkriegs ist in der kollektiven Erinnerung Europas fest verankert. Fast völlig vergessen ist hingegen das Leid, das die zahlreichen (Bürger-)Kriege, Vertreibungen, Pogrome und gewaltsamen Auseinandersetzungen nach Ende des Ersten Weltkriegs über weite Teile des Kontinents brachten.

Robert Gerwarth, geboren 1976, hat Geschichte in Berlin studiert und in Oxford promoviert. Nach Stationen an den Universitäten Harvard und Princeton lehrt Gerwarth heute als Professor für Moderne Geschichte am University College in Dublin und ist Gründungsdirektor des dortigen Zentrums für Kriegsstudien, das vom European Research Council und der Guggenheim Stiftung gefördert wird. Er ist Fellow der Royal Historical Society, Mitglied der Royal Irish Academy und Autor zahlreicher Publikationen. Sein Buch »Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler« (2007) wurde mit dem renommierten Fraenkel Prize ausgezeichnet. Bei Siedler erschienen von ihm zuletzt »Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs« (2017) und »Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit« (2019). 2020 erhielt Gerwarth den Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschaftsvermittlung von der Alexander von Humboldt-Stiftung.

AM 9. SEPTEMBER 1922 ENTLUDEN SICH die in einem Jahrzehnt des Krieges aufgepeitschten Emotionen in der Stadt Smyrna. In angespannter Stimmung verfolgte die christliche Mehrheit an diesem Tag den Einzug der türkischen Kavallerie in die einst wohlhabendste und weltoffenste Stadt des Osmanischen Reiches. In Smyrna, wo Muslime, Juden, Armenier und griechisch-orthodoxe Christen über Jahrhunderte mehr oder weniger friedlich zusammengelebt hatten, war nun, nach fast zehn Kriegsjahren, das Verhältnis zwischen den Volksgruppen nachhaltig zerrüttet. Das Osmanische Reich, das in den Balkankriegen der Jahre 1912/13 fast alle seine europäischen Besitzungen eingebüßt hatte und 1914 als Verbündeter Deutschlands in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, hatte sich 1918 ein weiteres Mal auf der Verliererseite wiedergefunden. Der arabischen Territorien im Nahen Osten beraubt, sah sich das unterlegene ehemalige Großreich mit seiner gedemütigten muslimisch-türkischen Bevölkerung schon im folgenden Jahr einer neuen Bedrohung gegenüber: Ermutigt vom britischen Premierminister David Lloyd George, landete 1919 ein griechisches Invasionsheer in Smyrna, fest entschlossen, Griechenland und die zumindest zum Teil christlich besiedelten Gebiete in Westanatolien in einem neuen Reich zu vereinen.1

Der folgende dreijährige Krieg richtete sich von Anfang an nicht nur gegen die feindlichen Soldaten. Beide Seiten schreckten vor dem systematischen Einsatz von massiver Gewalt gegen Zivilisten nicht zurück – ein Trend, der sich im Verlauf des Krieges noch verstärken sollte. 1922 gelang es Mustafa Kemal, dem fähigen Führer der türkischen Nationalisten – besser bekannt unter seinem späteren Ehrennamen Atatürk (»Vater der Türken«) –, gegen die mittlerweile tief in Zentralanatolien stehenden gegnerischen Truppen eine erfolgreiche Gegenoffensive einzuleiten. Diesem Angriff hatte die hoffnungslos überdehnte und schlecht befehligte griechische Armee nichts entgegenzusetzen und fiel in sich zusammen. Der übereilte Rückzug der demoralisierten griechischen Truppen war von Plünderungen, Brandschatzungen und Morden an der muslimischen Bevölkerung Westanatoliens begleitet, was unter der christlichen Bevölkerung Smyrnas die durchaus berechtigte Angst vor türkischer Vergeltung auslöste. Irreführende Zusicherungen der griechischen Besatzungsverwaltung und vor allem die Präsenz von nicht weniger als 21 alliierten Kriegsschiffen im Hafen von Smyrna hatten bei Griechen und Armeniern in der Stadt aber Zuversicht aufkommen lassen, dass die westlichen Alliierten – allen voran Großbritannien, das Athen zur Besetzung Smyrnas ermutigt hatte – gewiss einschreiten und die christlichen Einwohner vor der Rache der Muslime schützen würden. Aber sie taten es nicht – und so kam es zu einer furchtbaren Tragödie in dieser einst so blühenden Handelsstadt.

Kaum hatten die türkischen Truppen Smyrna eingenommen, verhafteten Soldaten den orthodoxen Erzbischof Chrysostomos, einen lautstarken Befürworter der griechischen Invasion, und führten ihn dem befehlshabenden Offizier General Nureddin Pascha vor. Dieser überließ den Gefangenen dem aufgebrachten türkischen Mob, der sich vor dem Hauptquartier eingefunden hatte und den Kopf des Metropoliten forderte. Nach dem Augenzeugenbericht eines französischen Matrosen »fiel die Menge mit gellendem Gekreische über Chrysostomos her und schleifte ihn die Straße hinunter bis zu einem Frisörladen, aus dessen Tür Ismael, der jüdische Besitzer, nervös hervorspähte. Jemand stieß den Frisör beiseite, griff sich ein weißes Tuch, band es Chrysostomos um den Hals und rief: ›Verpasst ihm eine Rasur!‹ Sie rissen dem Prälaten den Bart ab, stachen ihm mit Messern die Augen aus und schnitten ihm Ohren, Nase und Hände ab.« Keine Ordnungsmacht setzte dem