AM 9. SEPTEMBER 1922 ENTLUDEN SICH die in einem Jahrzehnt des Krieges aufgepeitschten Emotionen in der Stadt Smyrna. In angespannter Stimmung verfolgte die christliche Mehrheit an diesem Tag den Einzug der türkischen Kavallerie in die einst wohlhabendste und weltoffenste Stadt des Osmanischen Reiches. In Smyrna, wo Muslime, Juden, Armenier und griechisch-orthodoxe Christen über Jahrhunderte mehr oder weniger friedlich zusammengelebt hatten, war nun, nach fast zehn Kriegsjahren, das Verhältnis zwischen den Volksgruppen nachhaltig zerrüttet. Das Osmanische Reich, das in den Balkankriegen der Jahre 1912/13 fast alle seine europäischen Besitzungen eingebüßt hatte und 1914 als Verbündeter Deutschlands in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, hatte sich 1918 ein weiteres Mal auf der Verliererseite wiedergefunden. Der arabischen Territorien im Nahen Osten beraubt, sah sich das unterlegene ehemalige Großreich mit seiner gedemütigten muslimisch-türkischen Bevölkerung schon im folgenden Jahr einer neuen Bedrohung gegenüber: Ermutigt vom britischen Premierminister David Lloyd George, landete 1919 ein griechisches Invasionsheer in Smyrna, fest entschlossen, Griechenland und die zumindest zum Teil christlich besiedelten Gebiete in Westanatolien in einem neuen Reich zu vereinen.1
Der folgende dreijährige Krieg richtete sich von Anfang an nicht nur gegen die feindlichen Soldaten. Beide Seiten schreckten vor dem systematischen Einsatz von massiver Gewalt gegen Zivilisten nicht zurück – ein Trend, der sich im Verlauf des Krieges noch verstärken sollte. 1922 gelang es Mustafa Kemal, dem fähigen Führer der türkischen Nationalisten – besser bekannt unter seinem späteren Ehrennamen Atatürk (»Vater der Türken«) –, gegen die mittlerweile tief in Zentralanatolien stehenden gegnerischen Truppen eine erfolgreiche Gegenoffensive einzuleiten. Diesem Angriff hatte die hoffnungslos überdehnte und schlecht befehligte griechische Armee nichts entgegenzusetzen und fiel in sich zusammen. Der übereilte Rückzug der demoralisierten griechischen Truppen war von Plünderungen, Brandschatzungen und Morden an der muslimischen Bevölkerung Westanatoliens begleitet, was unter der christlichen Bevölkerung Smyrnas die durchaus berechtigte Angst vor türkischer Vergeltung auslöste. Irreführende Zusicherungen der griechischen Besatzungsverwaltung und vor allem die Präsenz von nicht weniger als 21 alliierten Kriegsschiffen im Hafen von Smyrna hatten bei Griechen und Armeniern in der Stadt aber Zuversicht aufkommen lassen, dass die westlichen Alliierten – allen voran Großbritannien, das Athen zur Besetzung Smyrnas ermutigt hatte – gewiss einschreiten und die christlichen Einwohner vor der Rache der Muslime schützen würden. Aber sie taten es nicht – und so kam es zu einer furchtbaren Tragödie in dieser einst so blühenden Handelsstadt.
Kaum hatten die türkischen Truppen Smyrna eingenommen, verhafteten Soldaten den orthodoxen Erzbischof Chrysostomos, einen lautstarken Befürworter der griechischen Invasion, und führten ihn dem befehlshabenden Offizier General Nureddin Pascha vor. Dieser überließ den Gefangenen dem aufgebrachten türkischen Mob, der sich vor dem Hauptquartier eingefunden hatte und den Kopf des Metropoliten forderte. Nach dem Augenzeugenbericht eines französischen Matrosen »fiel die Menge mit gellendem Gekreische über Chrysostomos her und schleifte ihn die Straße hinunter bis zu einem Frisörladen, aus dessen Tür Ismael, der jüdische Besitzer, nervös hervorspähte. Jemand stieß den Frisör beiseite, griff sich ein weißes Tuch, band es Chrysostomos um den Hals und rief: ›Verpasst ihm eine Rasur!‹ Sie rissen dem Prälaten den Bart ab, stachen ihm mit Messern die Augen aus und schnitten ihm Ohren, Nase und Hände ab.« Keine Ordnungsmacht setzte dem