Einführung
Das Problem des Jedermann
Narzissmus ist in aller Munde. Keine psychiatrische Diagnose wird so gern einem unliebsamen Zeitgenossen unterschoben wie diese, sei es dem Chef, einem Kollegen oder dem eigenen Ehemann. Allerdings – so muss man mit Schmunzeln konstatieren – sind das alles Fremdeinschätzungen. Die Selbstdiagnose ist in freier Wildbahn rar gesät.
Jeder Mann trägt narzisstische Anteile in sich. Der eine mehr, der andere weniger. Natürlich gilt das auch für Frauen, aber die sind nicht Thema dieses Buches. Gleich der Spitze des Eisberges sind die narzisstischen Anteile manchmal an einer libidinösen Selbstgefälligkeit wahrnehmbar, an einer unbändigen Freude an sich selbst. Im Gegensatz zur Leichtigkeit sanguinischer Fröhlichkeit wirkt diese Begeisterung aber nicht so ansteckend, sondern aus der Nähe eher kalt. Doch meistens bleiben die narzisstischen Charaktereigenschaften hinter einer Fassade der Freundlichkeit und des Mitgefühls verschämt versteckt. Sie blühen nur bei der manifesten Persönlichkeitsstörung – die früher Psychopathie genannt wurde – ungebremst und schamlos zu voller Blüte auf.
Dieselben Symptome, die die aufgeblühte Persönlichkeitsstörung auszeichnen, sind also auch mikroskopisch – und oft durchaus auch makroskopisch – in Herrn Jedermann vorhanden. Wie im Theaterstück Hugo von Hofmannsthals schleichen sich in Jedermanns Dasein fast unbemerkt alltägliche Rücksichtslosigkeiten und menschliche Unschärfen ein, die er für nebensächliche Bagatellen und unwesentliche Kollateralschäden des angenehmen Lebens hält. Die »guten Taten« hingegen werden von ihm – im Theaterstück wie in Realität – chronisch vernachlässigt und sind deswegen rollstuhlpflichtig gebrechlich. Die Geschichte geht bei Hofmannsthal gerade noch gut aus – aber nicht ohne die narzisstische Krise, eine schockierende Selbsterkenntnis und konsekutive Abwendung vom Egotrip.
Das diagnostische und therapeutische Ansprechen der narzisstischen Anteile muss man als Arzt des Herrn Jedermann meist sehr schonend vorbereiten und wohlwollend umschreiben, um nicht eine massive Kränkung hervorzurufen. Denn für viele schwingt mit dieser Krankheitsbezeichnung eine moralische Beurteilung mit, die dem Mediziner nicht zusteht und die er auch gar nicht intendiert. Dieses Buch verwendet die definierte narzisstische Persönlichkeitsstörung als Vorführmodell, um den alltäglichen Narzissmus des Herrn Jedermann besser zu verstehen. Dabei dienen seine spektakulären Symptome als Lupe für den mickrigen Narzissmus des kleinen Mannes. Dieses Buch versucht, das Thema verständlich, praxisbezogen und wissenschaftlich aufzubereiten.
Verständlich
Es ist geschrieben worden, um verstanden zu werden. Es möchte auf das Aneinanderreihen von Fachtermini und komplizierten Schachtelsätzen verzichten – und nimmt bewusst in Kauf, damit angreifbar zu sein. Denn über Narzissmus sind schon viele Bücher verfasst worden, die wegen ihres undurchdringlichen Jargons etwas kompliziert zu lesen sind. In einem 766 Seiten umfassenden Fachbuch über Narzissmus etwa stößt man pausenlos auf Sätze wie diesen: »Im Gegensatz zur Hypochondrie reflektiere die Schizophrenie (›Paraphrenie‹ entstammt Freuds Bemühen, einen Begriff zu prägen, der Schizophrenie und Paranoia umschließt) das Extrem eines solchen Zurückziehens der Objektlibido auf das Ich – parallel zum extremen Rückzug der Objektlibido auf Objekte der Fantasie – auf dem Weg der ›Introversion‹ bei den Psychoneurosen (d