1. Kapitel
Anfang Dezember, Maierhofen, Württembergisches Allgäu
»Hohoho …«
Erschrocken zuckte Thereses Hand aus dem großen Pappkarton zurück.
»… ich bin der Nikolaus, komm von drauß’, will ins Haus …«, dröhnte es weiter aus dem Karton.
Therese lachte leise auf. Daran, dass einer ihrer Nikoläuse sprechen konnte, hatte sie sich noch nicht gewöhnt.
Im Laufe der Jahre hatte sie eine ganze Reihe von Nikoläusen gesammelt. Der eine war sportlich und trug ein paar Ski, der nächste kam mit einem Schlitten daher, der übernächste war voll beladen mit Geschenken. Aber sprechen konnte nur einer. Der Nikolaus von Sam …
Therese strich die Schürze ihres Dirndls – ihr Markenzeichen, wenn es um Klamotten ging – glatt, dann hob sie den bärtigen Gesellen fast zärtlich aus der Kiste. Sie hatte ihn erst vor wenigen Wochen von Sam geschenkt bekommen, somit war er neu in der Runde. Aber allem Anschein nach vertrugen sich die alten und der neue ganz manierlich. Samy, wie sie ihn genannt hatte, hatte eine rote Samtweste an, die mit weißem Teddyfell verbrämt war. Seine Füße steckten in robusten Stiefeln, seine Haare waren lang wie die eines alten Hippies und wurden nur notdürftig von der Bommelmütze versteckt. Ein lustiger Geselle! Therese schmunzelte. Wo Sam ihn bloß aufgetrieben hatte?
Liebevoll ließ sie den Blick über die Fensterbank ihres Gasthauses Goldene Rose schweifen, wo – zwischen frisch geschnittenen Tannenzweigen – die Nikoläuse ihre Plätze eingenommen hatten. In den nächsten Wochen würden sie ein Auge auf das Treiben in der Gaststube haben. Würden den Duft von Gänsebraten einatmen und die Süße von Sams unnachahmlicher Schokoladencreme. Würden missfällig die Miene verziehen, wenn ein Ehemann seine Frau allzu lange anschwieg. Rede doch mit ihr!, würden sie ihn stumm auffordern. Sie würden verständnisvoll nicken, wenn auf einer Weihnachtsfeier Herr Schmidt mit Frau Maier schäkerte. So war das eben, wenn man ein Gläschen zu viel hob. Solange nicht mehr daraus wurde … Und wenn alle Gäste weg waren, würden sie sich wahrscheinlich ein Glas Bodenseewein aus den angebrochenen Flaschen genehmigen, die auf der Theke standen. Zumindest nahm Therese das an.
Sie konnte den Rauschebärten ihre rege Anteilnahme nicht verdenken, schließlich hatten sie viele Jahre ihr Dasein in einem verschlossenen Karton fristen müssen! Es war traurig, aber wahr – für eine weihnachtliche Dekoration hatte sie lange Zeit einfach keine Zeit gefunden. Oder keine Lust dazu gehabt. Lediglich einen künstlichen Tannenbaum mit integrierter bunter Lichterkette und hässlichen Plastikkugeln hatte sie aufgestellt.
Letztes Jahr jedoch, nachdem sie ihre schwere Krebserkrankung überstanden hatte, hatte sie sich an ihre Nikoläuse erinnert. Mit schlechtem Gewissen hatte sie einen nach dem andern aus dem Karton geholt, hatte sich für die Vernachlässigung entschuldigt. »Jahrelang habe ich mich nicht um euch gekümmert. Und um mich auch nicht. Aber das hat jetzt ein Ende! Ab jetzt wird wieder gelebt, versprochen«, hatte sie den Bärtigen zugeraunt. Alle hatten ihr verziehen, und so hatte auch sie sich verzeihen können.
Danke, lieber Gott, murmelte sie stumm, und ein Gefühl von Wärme durchströmte ihr Innerstes. Sie musste nicht explizit sagen, wofür sie sich bedankte, das wusste der liebe Gott a