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Geschichte der Fides
«Ich bin in einer norddeutschen Mittelstadt geboren; einen Teil meiner Kindheit und Mädchenjahre habe ich im deutschen Süden verlebt, auf einem Gut, das einem Bruder meiner Mutter gehörte. Ein großes schönes Gut, in weiter Wald- und Hügellandschaft. Mein Vater stammte aus einer Junkerfamilie, aus kleinem Adel also; sein Rang als Offizier erhob ihn in die herrschende Kaste. Er konnte sich als Gebieter der Stadt fühlen, und die Stellung, die er beanspruchte, wurde ihm auch eingeräumt. Ich sah immer nur Menschen, die sich vor ihm demütigten oder ihm schmeichelten. Insofern er keinen Widerspruch erfuhr, war er ein umgänglicher und höflicher Mann, wenn auch kühl und formelhaft.
Meine Mutter war von viel vornehmerer Geburt als er. Keinen Augenblick des Lebens verleugnete sich ihre Abkunft aus uraltem Hause und historisch-berühmtem Geschlecht, das in den Ostprovinzen, in der Vorzeit schon, für den Glauben gekämpft und Männer von unvergänglichem Ruhm hervorgebracht hatte. Mein Vater würdigte diesen Familienstolz durchaus an ihr und behandelte sie auch im häuslichen Kreis mit einer etwas steifen Auszeichnung. Ich erwähnte vorhin, dass meine Beziehung zur Fürstin weit zurückreicht; die Fürstin ist eine Verwandte meiner Mutter im zweiten Grad, und meine Mutter hat es ihr nie verziehen, dass sie aus ihrer Exklusivität heraustrat und sich, wie sie es ausdrückte, mit dem Volk gemein machte. Ich hörte in meiner Kindheit sehr viel von der Fürstin sprechen, aber nur Nachteiliges, auch bei den Verwandten in Süddeutschland; als es sich einmal fügte, dass ich sie sah, um mein fünfzehntes Jahr herum, war ich sehr betroffen von ihrer Schönheit und Milde, und ich begann an manchem irrezuwerden, freilich nur schüchtern und kaum bewusst. Sie war gekommen, weil die Mutter nach ihr verlangt hatte. Die Mutter wollte sie noch einmal sehen. Sie war krank und fühlte ihren Tod voraus.
Ich glaube nicht, dass wir arm waren. Reich waren wir keinesfalls. Schmuck und edles Mobiliar hatte sich von Jahrhunderten her vererbt. Die Lebensführung war, was man als standesgemäß bezeichnete. Das hatte seine unverrückbaren Formen und Gesetze. Es war für jeden Einzelnen geregelt, in dem, was er sprach, und in dem, was er tat. Keiner konnte etwas tun oder sagen, was man nicht von ihm erwartete. Geselligkeit entwickelte sich nach einem Programm. Urteile über Menschen und Ereignisse waren immer wie aus höherem Mund diktiert. Sich dagegen aufzulehnen war unmöglich. Eine Meinung zu äußern, die nicht die Meinung von allen war, hätte die größte Bestürzung erregt. Bei den Verwandten im Süden war man ein wenig liberaler, aber doch eigentlich nur in Worten, in der Ausdrucksweise und dem rascheren Temperament zuliebe; der Grundton, wenn ich’s recht bedenke, war auf die nämliche Starrheit gestimmt. Die Laune war besser, man lachte leichter. Aber für mich war’s schon ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Natürlich, wenn man in solcher Luft erzogen ist, kommt der Geist schwer zum Bewusstsein, dass es andere Art und anderes Leben überhaupt gibt. Wie sollte man’s denn erfahren haben; nicht einmal zum Bilde reicht’s; der Wille ist noch ganz erstickt. Heute weiß ich’s. Heute weiß ich, dass ich bis zu meinem zwanzigsten Jahre eine Marionette gewesen bin; dann erst sickerten Begriffe in mich hinein, und das alte Uhrwerk wollte nicht mehr laufen. Das heißt, es kam einer, der die Räder auseinandernahm und die Drähte zerschnitt und nachschaute, ob eine Menschenseele da war. Bis dahin war mein ganzes Dasein, wie soll ich sagen, erzwungene Äußerung gewesen. Jeder Wunsch stand unter Zwang. Die Gedanken waren befohlen, Umgang war befohlen, jedes Gespräch war ein Zeremoniell. Wenn man allein war, war man in einem unergründlich leeren Raume, grausig geradezu, und unter Menschen war man in einem eisernen Käfig. Immer ohne es zu wissen, und das macht alles so gespenstisch, trotzdem man Bälle und Theater besucht und Sport treibt und von der Zukunft und von Hoffnungen redet. Man dreht sich immer auf demselben Fleck, und die Leute sagen etwa: Schau hin, da ist eine schöne Aussicht, und man sagt Ja und macht eine entzückte Miene, und der hinter einem, der die Drähte in der Hand hält, passt schon auf, dass man keinen Schritt zu viel tu