JENNA
Wenn es um das Gedächtnis geht, bin ich so was wie ein Profi. Zwar bin ich erst dreizehn, aber ich habe es studiert, so wie andere Kids meines Alters Modemagazine verschlingen. So gibt es etwa das Gedächtnis, um sich in der Welt zurechtzufinden, wozu das Wissen gehört, dass Öfen heiß sind oder man Frostbeulen bekommt, wenn man im Winter ohne Schuhe nach draußen geht. Dann gibt es das Gedächtnis der Sinne – dass man blinzeln muss, wenn man in die Sonne starrt, und Würmer keine gute Mahlzeit sind. Es gibt Daten, an die man sich aus dem Geschichtsunterricht erinnert und die man dann im Abitur wieder hervorholen kann, weil sie im großen Plan des Universums von Bedeutung sind – sagt man mir jedenfalls. Und es gibt persönliche Details, an die man sich erinnert, wie die Höhepunkte in der eigenen Lebenskurve, die für keinen anderen von Bedeutung sind. Im vergangenen Schuljahr hat mein Lehrer in Naturwissenschaften mich eine Studie über das Gedächtnis anfertigen lassen. Ohnehin erteilen mir die meisten meiner Lehrer Aufgaben, die ich eigenständig ausführe, weil sie wissen, dass ich mich im Unterricht langweile, aber offen gestanden glaube ich, sie tun dies aus Angst, ich könnte mehr wissen als sie, und weil sie nicht in die Situation kommen wollen, dies zugeben zu müssen.
Meine erste Erinnerung ist unscharf mit weißen Rändern, wie ein überbelichtetes Foto. Meine Mutter hält gesponnenen Zucker in Kegelform in der Hand – Zuckerwatte. Sie hebt einen Zeigefinger an die Lippen –das ist unser Geheimnis – und reißt dann ein kleines Stückchen ab. Als sie damit meine Lippen berührt, löst der Zucker sich auf. Meine Zunge wickelt sich um ihren Finger und saugt kräftig daran.Iswidi, erklärt sie mir.Süß. Das ist nicht mein Fläschchen, es ist ein mir unbekannter Geschmack, aber ein guter. Dann beugt sie sich herab und küsst mich auf die Stirn.Uswidi, sagt sie.Liebling.
Ich dürfte höchstens neun Monate alt gewesen sein.
Das ist ziemlich erstaunlich, denn die meisten Kinder können ihre ersten Erinnerungen irgendwo im Alter zwischen zwei und fünf Jahren festmachen. Was aber nicht heißen soll, dass Babys an Amnesie leiden – sie verfügen über Erinnerungen, lange bevor sie über eine Sprache verfügen, haben aber verrückterweise keinen Zugang zu ihnen, wenn sie zu sprechen anfangen. Womöglich erinnere ich mich an die Episode mit der Zuckerwatte deshalb, weil meine Mutter Xhosa mit mir sprach, eine uns fremde Sprache, die sie sich angeeignet hatte, als sie in Südafrika an ihrer Promotion arbeitete. Vielleicht lässt sich diese zufällige Erinnerung aber auch mit einem Tausch erklären, den mein Gehirn vorgenommen hat – denn ich kann michnicht an das erinnern, woran ich mich so verzweifelt gern erinnern würde: an Einzelheiten jener Nacht, als meine Mutter verschwand.
Meine Mutter war Wissenschaftlerin, und für kurze Zeit beschäftigte sie sich sogar mit dem Gedächtnis. Das war Teil ihrer Arbeit über die kognitiven Fähigkeiten von Elefanten. Sie kennen doch das alte Sprichwort, dass Elefa