1. KAPITEL
Nach jeder Ebbe kommt irgendwann wieder die Flut, oder nicht?
Emma Purcell blendete das Dröhnen der Flugzeugmotoren aus und hing ihren Gedanken nach. Im Moment hielt sie sich geschäftlich gerade noch so über Wasser. Allerdings müsste sich bald etwas ändern, sonst würde „Safe Haven“ untergehen, jetzt, wo Frank Kean auch noch eine höhere Miete forderte. Entweder sie fand schnell einen Rettungsring, oder …
Emma unterdrückte die negativen Gedanken und seufzte. Seit sie das Anwaltsbüro verlassen hatte, fielen ihr alle möglichen Ausdrücke ein, die mit Wasser zu tun hatten, und das, obwohl sie das Meer gar nicht mochte.
Dabei wollte sie sich doch eigentlich von der Trauer über den vorzeitigen Tod ihres Cousins Wayne ablenken. Genauso wie von den finanziellen Sorgen, die sie sich wegen ihres geliebten Tierheims mit dem passenden Namen „Safe Haven“ – „Sicherer Hafen“ machte.
Nun gut, es gab eine alles entscheidende Frage, mit der sie sich ablenken konnte: Warum um Himmels willen hatte Wayne ihr, seiner Cousine, einer eingeschworenen Landratte, ausgerechnet ein Boot hinterlassen?
Vielleicht kann ich es verkaufen, überlegte sie, während der Pilot die Passagiere auf den Mount St. Helens rechter Hand aufmerksam machte. Von dem Erlös könnte sie sich möglicherweise einige Monate über Wasser halten, mit etwas Glück auch länger. Mit sehr viel Glück würde sogar noch ein Besuch beim Friseur dabei herausspringen.
Zuerst musste sie Waynes Wunsch erfüllen und sich persönlich um die „Pretty Lady“ kümmern. Darum hatte er sie ausdrücklich in einem reichlich rätselhaften Brief gebeten, den sie – ziemlich unheimlich – drei Tage nach seinem Tod erhalten hatte. Diesen Gefallen schuldete sie ihm jedenfalls.
Emma wehrte sich gegen die Traurigkeit, die sie zu überwältigen drohte, und blickte beim Anflug auf den „SeaTac Airport“ aus dem Fenster. Schön war es hier an der nordwestlichen Pazifikküste, das musste sie zugeben. Bisher war sie noch nie in diesem Teil des Landes gewesen. Sie fragte sich jetzt, weshalb eigentlich nicht. Sicher, sie mochte das Meer nicht, doch vom Flugzeug aus wirkte der Puget Sound eher wie ein riesiger ruhiger See mit Inseln und unterschiedlich großen Halbinseln.
Schon als Kind hatte ihr das Meer mit seiner endlosen Weite Angst gemacht, und dabei war es geblieben. Das war zwar albern, doch Emma konnte nichts daran ändern. Was sie unter sich sah, vermittelte jedoch einen ganz anderen Eindruck. Es lag nicht nur daran, dass die gewaltigen Brecher fehlten, sondern das Ufer war nie außer Sicht, und das beruhigte die Seele einer Landratte.
Es wird schon nicht so schlimm werden, sagte sie sich, als sie wenig später die Papiere für einen kleinen Leihwagen unterschrieb. Vielleicht wurde aus ihrem Aufenthalt sogar so etwas wie ein Urlaub.
Der junge Mann von der Leihwagenfirma erklärte ihr lächelnd, es wäre ganz einfach, ihr Ziel zu finden. Er nannte ihr die Straße und die Abfahrt, die sie nehmen musste. Und dann würde eine Fähre sie über den Meeresarm bis in die Nähe der Anlegestelle bringen, die sie suchte.
Fähre? Meeresarm?
Prompt sah Emma den Styx vor sich, jenen Fluss aus der griechischen Sagenwelt, der zum Reich der Toten führte, und bekam Panik. Entschieden verdrängte sie dieses Bild und starrte auf die Landkarte, auf der der nette Angestellte die Fahrtstrecke einzeichnete.
Sobald sie wieder im Freien war, rief sie über Handy Sheila, ihre unermüdliche Helferin im „Safe Haven“, an.
„Ich bin sicher gelandet“, meldete Emma. „