1. Kapitel
Als Laine Carrington in Thunder Point eintraf, fuhr sie direkt zum Hang am Strand und stellte das Auto auf dem Parkplatz neben Coopers Strandbar ab. Doch sie ging nicht hinein. Noch nicht. Zunächst wollte sie erst einmal sehen, ob der Ausblick von dem Grundstück mit den Bildern, die man ihr geschickt hatte, übereinstimmte. Laine atmete tief aus, ohne sich bewusst zu sein, dass sie vorher den Atem angehalten hatte. Die Aussicht war sogar noch schöner als auf den Fotos.
Was mache ich hier? schoss es ihr erneut durch den Kopf. Denn schon während der dreitausend Meilen langen Fahrt hatte sie sich diese Frage wieder und wieder gestellt.
Der Ausblick war tatsächlich atemberaubend. Der Strand lang und breit. Die riesigen dunklen Felsen bildeten einen deutlichen Kontrast zum graublauen Wasser. Die Bucht lag zwischen zwei Landzungen, hinter denen sich schier endlos der Pazifik erstreckte, der sich an den gigantischen Klippen brach. Doch das Wasser in der Bucht lag ruhig und still vor ihr.
Laine erschauderte vor Kälte und kuschelte sich noch tiefer in ihre Jacke. Es war Ende Januar, und die feuchte Kälte sorgte dafür, dass ihre rechte Schulter bis hinunter in den Ellbogen schmerzte. Die Schulter, in der eine Kugel gesteckt hatte. Vielleicht war es diese Kugel, die Laine nach Thunder Point geführt hatte. Sie war im Dienst verletzt und anschließend zur Erholung vom Außendienst des FBI in den Innendienst versetzt worden. Sie hatte keine laufenden Fälle mehr bekommen, aber einen Computer, um für andere Agenten zu recherchieren und Büroarbeit zu erledigen. Sowie sie erkannte, dass es statt der bisherigen Leitung von Ermittlungen eher um Assistenzaufgaben ging und zudem nach einem längeren Schreibtischaufenthalt aussah, hatte sie um ein Jahr unbezahlten Urlaub gebeten. Sie wollte sich voll und ganz auf ihre Genesung konzentrieren.
Die Reha war nur eine Ausrede. Laine brauchte dafür kein Jahr mehr. Ihre Schulter war beinahe schon wiederhergestellt. In einem halben Jahr wäre sie wieder topfit. Doch obwohl der Psychologe sie bereits für einsatzfähig erklärt hatte, wollte sie ihre berufliche Laufbahn noch einmal überdenken. Außerdem war sie allergisch gegen einen Vollzeitjob am Schreibtisch.
Noch dazu hatte sie einen schrecklichen Besuch bei ihrem Vater in Boston hinter sich. Danach war sie wütend heimgereist und hatte sich unverzüglich mit einer Immobilienmaklerin in Thunder Point in Verbindung gesetzt. Eine E-Mail mit ein paar Fotos hatte Laine gereicht. Sie beschloss, ein Haus zu mieten. Ein Haus mit Ausblick über die gesamte Bucht. Thunder Point in Oregon war so weit wie möglich von Boston entfernt.
Laines Auto stand auf dem Parkplatz der Strandbar. Sie lehnte lange am Kofferraum und blickte aufs Meer. Der Himmel war bedeckt, eigentlich sogar grau. Außerdem war es kalt und niemand auf dem Wasser. Laine mochte bewölkte und stürmische Tage. Ihre Mutter hatte solche Tage immer Suppentage genannt. Obwohl ihre Mutter eine typische Karrierefrau gewesen war, hatte sie gern gekocht und gebacken. Vor allem an solchen grauen Tagen war sie mit Tüten voller Lebensmittel früher aus dem Büro oder dem Krankenhaus nach Hause gekommen, um ein paar Stunden in der Küche zu v