: Matthias Hirth
: Lutra lutra
: Voland& Quist
: 9783863911416
: 1
: CHF 12.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 736
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Was würdest du tun, wenn du etwas Böses tun wolltest?' Sich in Spaß und Sex zu verlieren ist das Programm des zweiunddreißigjährigen Fleck. Doch er spürt, dass er dafür zu zaghaft ist. Worin besteht wirkliche Stärke? Wie erreicht er die Ausstrahlung, die ihn für jede Frau und jeden Mann unwiderstehlich macht? Er kommt zu dem Schluss, dass es für ihn nur einen Weg zu vollkommener Selbstbestimmtheit und wahrhafter Attraktivität gibt: mit sämtlichen Regeln der Gesellschaft zu brechen...

Matthias Hirth arbeitet als Schauspieler und Regisseur an mehreren deutschen Theatern sowie für Rundfunk und Fernsehen. Er unternahm zahlreiche Fernreisen, baute in den vergangenen Jahren einen Zukunftsthinktank für die Industrie auf und ist Mitbetreiber einer Münchner Szenebar. Seit 2000 ist er hauptsächlich als Schriftsteller tätig. 2005 erhielt er das Literaturstipendium der Stadt München. Nach mehreren Buchveröffentlichungen erschien 2007 sein von der Kritik hochgelobter Roman 'Angenehm' (Blumenbar).

1. Jan und Janet


König Hussein von Jordanien ringt mit dem Tod. Anhaltende Spekulationen um seine Nachfolge verschärfen die Sorge um die politische Stabilität im Nahen Osten. Die NASA-Raumsonde Stardust ist von Cape Canaveral aus ins All gestartet, um Staubpartikel aus dem Koma des Kometen Wild 2 zur Erde zu bringen. Ziel der Mission: Erkenntnisse über die Entstehung des Universums. Bundeskanzler Schröder begrüßt die neue EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Strommärkte. In Jacksonville, Florida, verliert die deutsche Nationalelf gegen die Auswahl der USA mit 3:0. Kaltluft im Norden verlagert sich westwärts und bringt …

Durch Ziehen des Zündschlüssels beendet ein junger Mann die 22-Uhr-Nachrichten aus seinem Autoradio und wirft die Fahrertür hinter sich zu. Er ist auf dem Weg zu einer Party. Sein Name ist Fleck. Bei seinem eigentlichen Namen nennt ihn seit seiner Schulzeit keiner mehr, er sich selber auch nicht. Es ist kalt, er geht schnell. Die Taschensäume seiner Jeans schneiden ihm in die Handrücken. Ein Abend im Spätwinter 1999, dem letzten Jahr des alten Jahrtausends.

Fleck ist einunddreißig, ein Alter, in dem in den letzten Jahren des alten Jahrtausends die Midlife-Crisis quasi vor der Tür steht. Er sieht nicht schlecht aus, in den Augen mancher Leute sogar gut, allerdings auf eine beinahe unzeitgemäße Weise, nicht dem Schönheitsideal entsprechend, nach dem etwa die Kühlergrills der Autos dieser Zeit gestaltet sind – weit auseinanderliegende Augen, schräg zulaufende Brauen, platte, brutal wirkende Nase –, eher dem vergangener Zeiten, schmal, hoch, europäisch, der Art Gesichter, wie sie einem aus alten Porträtbildern entgegensehen, oder, um im Bild zu bleiben, der sachlichen Front eines Siebzigerjahre-Coupés; gut, aber nicht unverschämt gut, will sagen sein Gut-Aussehen führt nicht zu einer anhaltenden Verzerrung der Kräfteverhältnisse im Umgang mit anderen Menschen. Nach dem Abitur hat er eine Weile herumstudiert, Orchideenfächer wie Theaterwissenschaften und Germanistik. Er hat Seminare in Philosophie und Psychologie belegt, halbherzig versucht, auf die Filmhochschule aufgenommen zu werden, und sich sogar, dem plötzlichen Impuls folgend, etwas Vernünftiges zu machen, ein Semester lang für Rechtswissenschaften eingeschrieben. Irgendwann hat er den Schulgeruch nicht mehr ertragen, den Dunst von Bohnerwachs und Lernschweiß, den er inklusive Gymnasiumszeit fünfzehn Jahre eingeatmet hatte, und die Uni verlassen. Ein paar Jahre hat er in einer kleinen Werbeagentur gearbeitet, ein Zufallsjob, den ihm ein Freund verschafft hat und den er in dem Moment hinschmiss, als ihm seine Großmutter, eine kühle, depressive alte Dame, zu der er nie ein besonderes Verhältnis hatte, einige Tausend Mark hinterließ. »Ihrerseits ist aufgrund dieses Bescheids weiter nichts veranlasst«, hatte auf dem Schreiben vom Nachlassgericht gestanden. Während des Kündigungsgesprächs in seiner Agentur hat er auf Zweifel gewartet, etwa ob es richtig sei, der Arbeitswelt und den Kollegen den Rücken zu kehren. »Ist das dein Ernst?«, hat seine Chefin gefragt, als er den gewissen Satz ausgesprochen hatte, nicht ohne Kränkung im Blick über die mangelnde Bedeutung ihrer Person und ihrer Firma in Flecks Leben. Fleck hat genickt. »Gut, dann bist du draußen.« Und Fleck hat festgestellt, dass er niemals hatte drinnen sein wollen, nicht eine Stunde, weder in dem Drinnen einer Werbeagentur noch in irgendeinem anderen.

Fleck ist angekommen, drückt die Klingel. Es ist lange her, dass er einer Einladung gefolgt ist. Mindestens drei Monate hat er ein Schneckenhausdasein geführt. Auslöser war ein Mädchen, das sich nach ein paar unschönen Vorfällen aus seinem Leben verabschiedet hat. Eine Abtreibung spielte eine Rolle. Er hat selbst gestaunt, wie sehr ihn diese Trennung aus dem Tritt gebracht hat. Etwas wegmachen zu lassen bedeutet eben nicht, dass es auch tatsächlich weg ist. Der Öffner surrt. Fleck drückt mit der Schulter die Haustür auf, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Durchs Treppenhaus hallt Musik. Er zögert kurz.

Eine kleine Zweizimmerwohnung voller lärmender Leute, knapp hundert Menschen auf fünfzig Quadratmetern, die sich im Flur aneinander vorbeiquetschen, in Hockstellung am Boden kauern, sich vor dem Klo stauen, wo sich im Badewannenwasser die Etiketten der Bierflaschen lösen. Es ist Faschingssaison. Masken und Kostüme, wie man ihnen gerade überall auf der Straße begegnet, sieht man hier nicht. Die meisten Gäste sind Studenten der Kunstakademie, einige von ihnen kennt Fleck aus einem vergangenen Früher. Leonhard, dessen großformatige Arbeiten überall an der Wand hängen, feiert Geburtstag. Gerade drängt er vorbei, verschwitzt und rot im Gesicht vor Hingabe an die Gastgeberrolle. Er trägt eine Kurzsichtigenbrille mit mächtigem Rahmen und gibt Fleck einen Kuss ans Kinn.

»Mann, Fleck, schön, dass du da bist. Dich kriegt man ja gar nicht mehr zu Gesicht!«

Durchs Gedränge zerrt er seinen Freund hinter sich her, einen kleinen blonden Polen mit Skinfrisur, der kaum Deutsch spricht und den er als Staszek vorstellt. Fleck schiebt sich in die Küche und schüttet kurz hintereinander zwei Pappbecher Gin Tonic in sich hinein. Ich muss Gehen, Stehen, Reden in Gesellschaft wieder lernen, denkt er. Eine Weile starrt er auf eins von Leonhards Bildern. Zu seinen Werbeagenturzeiten hat er in denselben Kneipen abgehangen wie diese Akademie- und Filmschüler, weil er sich einbildete, dieselben Interessen wie sie zu haben. Mit Leonhard hat er sich ein paar Mal besoffen, seine Bilder kennt er nicht. Drei nackte Jungs in einem offenen Cadillac mit Heckflügeln. Na ja.

»Du magst mich nicht, stimmt’s?«, sagt eine Stimme mit amerikanischem Akzent.

»Wer? Ich?«

»Ja, du.«

»Warum?«

Das Mädchen hat einen merkwürdig breiten Mund mit großen Zähnen, glatte schwarze Haare, die ihr im Pony in die Stirn hängen. Nicht unbedingt hübsch, aber fröhlich, selbstsicher, betrunken. Fleck ist sich nicht bewusst, sie überhaupt angesehen zu haben.

»’cause you look sinister.«

Fleck schaut.

»This boy is nett, aber he doesn’t like me«, meint sie zu einem großen Schwarzhaarigen, der neben ihr steht. »He’s sinister.«

Der Schwarzhaarige könnte der Bruder des Mädchens sein. Flächiges, beinahe asiatisch wirkendes Gesicht, die Haare bläulich schimmernd und glatt. Er legt ihr den Arm um die Schulter und prostet Fleck zu.

Sinister heißt finster, überlegt Fleck, war es nicht so? Böse, link.

»Chicks forced to dance!«, schreit die Amerikanerin und fängt an, auf und ab zu springen. Sie packt den Schwarzhaarigen und zieht ihn über die Schwelle ins nächste Zimmer, wo die Leute zu wie mit Puppenstimmen gesungenen japanischen Schlagern tanzen. Die zwei Gin Tonic kommen allmählich in Flecks Kopf an. Der Schmerz stellt sich gar nicht ein, denkt er. Offensichtlich darf ich ungestraft Teil einer Menge sein. Jemand gibt der Reihe, in der er steht, einen Stoß, er verliert das Gleichgewicht, stolpert ins Tanzzimmer, stößt gegen die Wand und verschüttet seinen Drink. Schöne Party, sagt er sich.

»Ich bin Janet«, ruft die Amerikanerin und hüpft mit grotesk wedelnden Armen vor ihm in die Höhe.

»Das ist Janet«, echot der Schwarzhaarige und greift ihr von hinten an die Brüste. »Janet und ich heiraten. Stimmt’s, Bitch, wir heiraten! Hey, du da, was sagst du?«

Janet hebt die Arme, fasst hinter sich und zieht den Schwarzhaarigen an seinen schwarzen Haaren zu sich herunter. Nachdem sie ihn geküsst hat, sieht der Schwarzhaarige zu Fleck hinüber, schüttelt sich wie ein Comic-Hund und verdreht die Augen. Der ganze Raum tanzt. Alle hüpfen durcheinander, dass der Boden vibriert. Wirklich schöne Party, denkt Fleck.

Dann steht er mit dem Schwarzhaarigen, von dem er inzwischen weiß, dass er Jan heißt und ebenfalls Kunst studiert, in der Küche vor dem zermatschten Buffet, wo Kuchen, Nudelsalat, Käsereste und Joghurtnachspeise zusammen mit verschüttetem Rotwein eine bröckelige Masse bilden. Sie trinken Wodka und Gin gemischt mit lauer Cola und Tonic, das in offenen Plastikflaschen herumsteht. Gemeinsam hacken sie mit dem Brotmesser aus dem Eisfach des Kühlschranks Gefrierreif für ihre Drinks. Fleck fühlt sich gut.

»Das mit dem Heiraten«, sagt er, »meinst du das...