Kapitel 3Die Sache mit der Rosine
Was du heute kannst besorgen, dass verschiebe nicht auf morgen: Ich wache auf und werde direkt daran erinnert, dass ich vergessen habe, Mückenspray zu kaufen. Man denkt ja, irgendwann hat man die maximale Anzahl an Mückenstichen erreicht. Von wegen. Ich bin übersät. Einer ist direkt auf dem Augenlid, das sich anscheinend auch entzündet hat. Es juckt höllisch. Und ich sehe aus wie nach einer üblen Schlägerei. Ich bin nicht besonders eitel, für ein Mädchen zumindest, aber gerade traue ich mich kaum aus meinem Anhänger raus. Wahrscheinlich wird mein Anblick die sicher sehr schicke Psychotherapeutin Eva, die mich heute besuchen will, ziemlich erschrecken, steigere ich mich rein. Am liebsten würde ich andere Menschen heute komplett meiden. Aber da muss ich jetzt wohl durch. Vielleicht ist auch diese Erfahrung ein Puzzleteil des großen Bildes der Entschleunigung, das sich am Ende der Tour sinnvoll zusammenfügt. Ich setze also die Brille auf und versuche nicht an den Juckreiz zu denken. Ein bisschen lächerlich komme ich mir in meiner Eitelkeit gerade schon vor …
Entschleunigung wird oft mit Achtsamkeit gleichgesetzt. Momentan bin ich sehr achtsam, was meinen Mückenstich betrifft. Das bringt mir jedoch überhaupt nichts, und ich denke, das kann unmöglich der Grundgedanke dieser ganzen Bewegung sein. Ein Freund hatte mir von seiner Bekannten in München erzählt, die sich beruflich mit den Themen Entschleunigung und Achtsamkeit beschäftigt. Eva hilft gestressten Menschen im Gespräch mit ihnen und durch gezielte Übungen aus ihrem «Trott» zu kommen. Um herauszufinden, ob die innere Einstellung tatsächlich dabei hilft, der Entschleunigung ein bisschen näher auf die Spur zu kommen, habe ich mich heute mit ihr verabredet.
Noch vor meiner Reise – als ich in der Psychotherapeutischen Praxis anrief, um zu erfahren, ob ich auch ohne Rezept eine Therapieeinheit auf meiner Tour bekomme – merkte ich, dass Eva sicher viele spannende Antworten auf meine Fragen haben wird. Aus einer sehr spannenden Perspektive allemal: Sie ist schließlich die Person, die tagtäglich mit Menschen spricht, die an ihrem eigenen Lebenstempo erkrankt sind. Männer und Frauen, mit vermutlich unterschiedlichsten Auslösern für ihr Leiden. Daraus schlussfolgere ich: Das Achtsamkeitstraining ist eine Methode, die persönlichkeitsübergreifend funktioniert. Ganz gleich, aus welchem beruflichen oder sozialen Umfeld man kommt und wo die Gründe für die Sehnsucht nach Entschleunigung liegen.
Psychotherapeuten neigen berufsbedingt dazu, einen geringeren Sprechanteil zu haben als ihr Klient und sich mit Tipps nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Der Klient soll bestenfalls selbst auf die Lösung kommen. Ich überlege, ob Achtsamkeit vielleicht bedeutet, dass man sich auf eine einzige Sache fokussiert und somit die Gedanken in eine Richtung lenkt. Für mich würde das heißen: weg von den Mückenstichen hin zu … Zu was eigentlich? Ich bin gespannt.
Von weitem sehe ich ein Auto, das aussieht wie der große Bruder vom Goggo. Es ist ein roter Mini mit weißem Dach, Münchner Kennzeichen. Das muss Evas sein. Es steigt eine zierliche, dunkelhaarige Frau aus. Hoffentlich gehört Eva zur redseligen Fraktion der Psychotherapeuten – mit einer einzigen Therapiestunde werde ich wohl kaum alleine hinter die Sache mit der Achtsamkeit kommen.
Der Kaffee, den ich mit meinem ultraleichten Campingkocher gebrüht habe, ist gerade fertig, und wir machen es uns am Camper gemütlich. Ich bin beruhigt, als sie gleich beginnt zu erklären: «Achtsamkeit bedeutet, dass man übt, konzentriert im Hier und Jetzt zu sein.»
Vom «Hier und Jetzt» wird mir oft erzählt, das scheint der Schlüssel zur ganzen Entschleunigungsnummer zu sein. Ganz vollständig erschließt sich mir dieser Begriff nicht. Aber er klingt verheißungsvoll. Ich verbinde damit ein Gefühl aus der Kindheit, in der man eigentli