Der Sog – zu Beginn
Sie heißt Eva. Eva hat einen Mann, zwei Kinder, einen mittelgroßen Hund und einen mittelkleinen Garten am Reihenendhaus.
Ab halb sieben läuft ihr Programm: Eine schnelle Tasse Kaffee mit ihrem Rainer, Frühstück für Kinder und Hund, Charlotte und Max in die Schule gebracht, eingekauft, aufgeräumt, Essen vorbereitet, danach ist schon wieder Zeit, die Kinder zu holen. Der Einkauf, der Garten, ihre Pilates-Gruppe, der Lauf-Treff. Zweimal in der Woche geht Max zum Fußball, Charlotte zum Judo, beide haben Klavierstunden. Hinfahren, abholen, zu Freunden bringen. Die Hausaufgaben, Elternsprechtage, Kindergeburtstage.
So sieht es aus bei Eva. Sie ist zufrieden – sagt sie. Da sind ihr Mann, die Kinder, das Haus … Eva ist achtunddreißig, Max und Charlotte sind fünf und sieben Jahre alt. Rainer ist gerade Oberarzt geworden, er verdient genug für sie alle. Doch wenn Eva nachts aufwacht, kommt die Angst: Was, wenn sie Rainer verliert? Was, wenn die Kinder weg sind? Was, wenn …
Alle ihre Freundinnen leben so oder so ähnlich. Alle benehmen sich, als hätten sie es gut getroffen. Soll Eva damit rausrücken, dass sie sich ihr Leben eigentlich mal anders vorgestellt hat?
Sie war immer ehrgeizig. Eine gute Schülerin, eine prima Abiturientin, ihre Ausbildung zur Bankkauffrau hat sie hervorragend abgeschlossen. Sie wollte finanziell auf niemanden angewiesen sein. Was es heißt, ohne eigenes Geld dazustehen, hatte sie bei ihrer Mutter erlebt. Das sollte ihr nicht passieren. In ihrer Familie würde es partnerschaftlich zugehen, alles sollte geteilt werden, auch die Haus- und die Kinderarbeit. In der Liebesbeziehung auf Augenhöhe zu leben, ist doch kein Problem, dachte sie, man muss es nur wollen. – Das war der Plan.
Als sie in der Bank mit Ende zwanzig ihre erste Abteilung übernahm, war Eva wahnsinnig stolz – und lernte Rainer kennen. Ein interessanter Typ, der wusste, was er wollte. Ihr schwante zwar bald, dass ihr Held sehr konventionell gestrickt war, was Frauen anging, aber das würde sie schon ändern, dachte Eva. Sie war sehr verliebt.
Kurz darauf bewarb sich Rainer für seine Ausbildung zum Facharzt auf eine Stelle in Nordrhein-Westfalen. Er zog weg von Bremen. Eine Zeit lang pendelten sie, doch Eva fürchtete, das würde die Beziehung sprengen. Gleichzeitig wurde ihr der Arbeits- und Leistungsdruck in der neuen Abteilung zunehmend unangenehm, und die Stimmung war auch nicht sonderlich kollegial. Eva zog Rainer hinterher. Einen Job in der neuen Stadt hatte sie nicht. Den würde sie schon noch finden, glaubte sie. Stattdessen wurde sie schwanger.
Wie wird das mit dem Kind, wer kümmert sich? Rainer freute sich, Vater zu werden, wollte aber auf keinen Fall beruflich aussetzen; das könnte er sich nicht leisten, meinte er. Obwohl Eva ihre Arbeit vermisste, verstand sie ihren Liebsten irgendwie, und vor allem wollte sie nicht mit ihm streiten. Ein Jahr plante sie auszusetzen, um dann neu zu starten.
Sie konzentrierte sich auf Kind und Mann. Als Charlotte zwei Jahre alt war, überlegte sie, beruflich wieder einzusteigen. Ihre Mutter war entsetzt: Wie sie sich das vorstellte? Das Kind alleine lassen? Rainer arbeitete pausenlos. Sollte sie jetzt von ihm verlangen, zurückzustecken und sich mehr um die Kleine zu kümmern? Wo er doch ganz selbstverständlich erwartete, dass sie ihm den Rücken freihielt. Eva wurde wieder schwanger. Und dann kauften sie das Haus.
Ihr Sohn Max war aus dem Gröbsten raus. Eine Stelle suchen, wieder reinkommen? Nach fünf Jahren zu Hause wusste Eva nicht mehr so recht, wie sich das Arbeitsleben anfühlte