: Tomás González
: Was das Meer Ihnen vorschlug
: mareverlag
: 9783866483248
: 1
: CHF 8.70
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: Erzählende Literatur
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als nichtsnutzige Versager betrachtet der jähzornige, misanthropische Hotel­besitzer seine fast erwachsenen Zwillingssöhne Mario und Javier. Und nachdem sie jahrelang unter ihm gelitten haben, bringen die beiden Brüder dem her­rischen Vater ihrerseits lang gewachsene Ablehnung entgegen. Schließlich hat nicht zuletzt dessen schamloses Verhältnis mit einer anderen Frau, aus dem sogar ein weiteres Kind hervorgegangen ist, ihre Mutter krank gemacht - ein offenes Geheimnis in dem kleinen Küstenort. Eines Nachmittags begeben sich Vater und Söhne zum Fischen auf hohe See. Doch vor der karibischen Küste braut sich ein schweres Unwetter zusammen, die Hitze ist drückend, die Stim­mung aufgeladen. Als ihr Motorboot in Seenot gerät und der Vater plötzlich über Bord geht, erkennen die Brüder eine Chance, die so verlockend wie grau­sam ist. In siebenundzwanzig vielstimmigen Kapiteln schildert Tomás González die schicksalsträchtigen Stunden, in denen ein fest verwurzelter Konflikt unauf­haltsam auf seinen Höhepunkt zusteuert und in denen zwei Brüder eine Entscheidung über Leben und Tod fällen müssen. Vordergründig still, erzählt González eine dramatische Geschichte von der Dimension einer griechischen Tragödie.

Tomás González, 1950 in Medellín geboren, zählt zu den wichtigsten kolumbianischen Autoren der Gegenwart. Er studierte Philosophie in Bogotá und begann in den 80er-Jahren mit dem Schreiben von Erzählungen, Romanen und Gedichten, von denen viele ins Deutsche übertragen worden sind. Nachdem er 16 Jahre als Übersetzer und Journalist in New York tätig war, lebt er heute wieder in Kolumbien. Peter Schultze-Kraft, 1937 in Berlin geboren, setzt sich seit fünfzig Jahren als Übersetzer und Herausgeber für die latein-amerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum ein. Seit 2003 überträgt er Tomás González' Werke ins Deutsche, zusammen mit seinem Bruder Rainer Schultze-Kraft, geboren 1941, ehemals Professor für tropische Landwirtschaft und Kolumbien ebenfalls eng verbunden.

Samstag, 4 Uhr


Obwohl Mario eine Riesenwut im Bauch hatte, legte er die zwei Ruder sorgfältig ins Boot. Dann machte er sich auf den Weg zum Bungalow des Vaters, um die Benzinkanister zu holen. Javier hatte die Wasserflaschen und die zwei Kühlboxen, eine mit Eis, die andere ohne, schon gebracht und war jetzt wohl dabei, den Kaffee für die Thermosflaschen und die Eier für das Frühstück zu kochen. Mario war zwei Stunden nach Javier zur Welt gekommen und wünschte sich oft, nie geboren worden zu sein. Das Boot war himmelblau, zehn Meter lang und aus Glasfaser. Auf einer der Bänke brannte eine Coleman-Lampe. Trotz der nächtlichen Kälte trug Mario kein Hemd. Die Wut auf den Vater hielt ihn warm.

Wäre es ihm nicht gleichgültig gewesen, hätte er das Netz der Sterne am Himmel bewundert. Er schaute zwar nach oben, sah die Sterne aber nicht oder wollte sie nicht sehen. Javier kannte sich mit Großen und Kleinen Bären und Kreuzen des Südens aus; Mario konnte dafür mit verbundenen Augen einen Außenbordmotor auseinandernehmen und wieder zusammensetzen und fand sich auch ohne die Sterne sehr gut im Golf zurecht. Den Blitz, der seine Fangarme am Horizont ausstreckte, bemerkte er durchaus und auch, wie windstill es war, aber nicht weil ihn das als Naturschauspiel beeindruckte, sondern weil er alles, was mit Meer und Fischfang zusammenhing, instinktiv wahrnahm.

Der Gast, der im einzigen erleuchteten Bungalow die ganze Nacht getrunken hatte, stellte jetzt die Musik ab und löschte das Licht. Die Tangoklänge von Gardel und Olimpo Cárdenas und die in ihm kochende Wut hatten Mario kaum schlafen lassen.