1. KAPITEL
Sechs Wochen später
Es war wie ein Déjà-vu. Alles erschien ihr so vertraut und doch so fremd.
Als Daisy das letzte Mal in Hawksley gewesen war, hatte noch Schnee das Schloss und die umliegenden Ländereien bedeckt. Ein Winter-Wunderland, das geradewegs aus einem kitschigen Kinofilm zu stammen schien. Jetzt war der Schnee längst verschwunden. Stattdessen erstrahlte die Rasenfläche auf dem Schlosshof in zartem Grün, und Primeln und Krokusse streckten ihre Köpfe vorsichtig aus dem kalten Boden der Sonne entgegen.
Der alte normannische Burgfried ragte majestätisch zu ihrer Linken in die Höhe. Die ehrwürdigen Granitpfeiler bildeten einen krassen Gegensatz zum heimeligen Charme der im Tudorstil erbauten Wohngebäude auf der rechten Seite. Und geradeaus, direkt vor ihr, befand sich das georgianische Herrenhaus.
Daisy schluckte. Alles in ihr schrie danach, sich umzudrehen und davonzulaufen. Sie konnte noch ein paar Wochen warten und es danach noch einmal versuchen. Oder einfach einen Brief schreiben. Schließlich war sie ja noch immer in einem ganz frühen Stadium …
Nein, sagte sie zu sich selbst und straffte die Schultern. Das wäre feige, und ihre Eltern hatten keine Memme großgezogen.
Davon abgesehen brauchte sie wirklich jemanden, mit dem sie reden konnte. Sie wollte sich ihrer Familie nicht offenbaren – noch nicht. Und ihre Freunde würden sie einfach nicht verstehen.Er war der einzige Mensch, den diese Angelegenheit ebenso betraf wie sie.
Die Entscheidung war getroffen. Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und machte sich auf die Suche.
Das Schloss wirkte irgendwie verwaist. Der kleine Ticketschalter war geschlossen, und ein Schild verkündete, dass das Anwesen seine Tore erst zu Pfingsten wieder öffnen würde. Suchend schaute Daisy sich um, doch nirgends war auch nur eine Menschenseele zu entdecken.
Die kleine graue Tür am Ende des georgianischen Flügels erkannte sie von ihrem vorherigen Aufenthalt wieder. Sie konnte ebenso gut hier anfangen wie sonst irgendwo.
„Toll.“ Fest verschlossen, und es gab keine Klingel.
Daisy klopfte so fest, wie sie konnte. Dann trat sie zurück und wartete. Die Anspannung verursachte ihr ein flaues Gefühl in der Magengrube.
Endlich schwang die Tür auf. Langsam. Daisy holte tief Luft und hielt den Atem an. Erinnerte er sich überhaupt an sie? Würde er ihr glauben?
Eine Gestalt erschien im Türrahmen, und Daisy spürte, wie Enttäuschung und Erleichterung sie zu gleichen Teilen durchströmte. Sofern Seb nicht um etwa fünfundzwanzig Jahre gealtert, etwa dreißig Zentimeter geschrumpft war und zudem auf magische Weise sein Geschlecht gewechselt hatte, handelte es sich eindeutig nicht um ihn.
Sie warf ihre Kapuze zurück und schenkte der ernst dreinblickenden Frau, die im Türrahmen stand, ein freundliches Lächeln. „Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach Seb.“
Die andere Frau verschränkte die Arme vor der Brust. „Seb?“ In ihrer Stimme schwang so etwas wie Ungläubigkeit mit.
„Ja.“ Daisy biss sich auf die Unterlippe. Sie erinnerte sich doch wohl richtig an seinen Namen, oder? Diese ganze Nacht glich für sie einem verschwommenen Nebel. „Der Hausmeister“, fügte sie erklärend hinzu.Daran erinnerte sie sich wenigstens noch.
„Eine Wartungscrew kümmert sich um das Anwesen.“ Die