Nach dem, was wir eben gesagt haben – und zwar in beiden Fällen –, scheinen diese beiden Arten von Treue – die Treue zu sich selbst und die Treue zum anderen – miteinander in Widerspruch geraten zu sein. Auf wechselseitige Treue zu verzichten, scheint sowohl für Anne als auch für Dominik im Interesse der Treue zu sich selbst, also ihrer eigenen Individualität, ihrer Autonomie, unverzichtbar gewesen zu sein. Eine ausschließliche, eine »treue« Beziehung, hätte bei ihnen eine Entwicklungsblockade bedeutet. Dies war aber auch für Nicola und Heinz so: Die Treue zueinander war in emotionaler Hinsicht für beide zu einer Art emotionalem Gefängnis geworden, und das galt auch für Heinz, obwohl er dies nicht so spürte, weil er sich Möglichkeiten geschaffen hatte, schon vor der eigentlichen Außenbeziehung in andere Erfahrungen außerhalb der Beziehung »auszuweichen«.
Derartige Widersprüche von Treue zu sich selbst und Treue zum anderen erleben wir in den letzten Jahrzehnten viel häufiger, als dies früher der Fall war. Die Gesamtentwicklung in dieser Zeit, was Beziehungen angeht, kann man charakterisieren als eineimmer stärkere Betonung der individuellen Bedürfnisse und Interessen gegenüber denen der Gemeinschaft und der Familie. Für die Menschen früherer Jahrhunderte war der Erhalt der Familiengemeinschaft überlebenswichtig. Es hing die nackte Existenz daran. Dies galt sowohl für die vorindustrielle, agrarisch-handwerkliche Gesellschaft, als auch für die erste Zeit der dann entstehenden industriellen Gesellschaft. Für die bäuerlich-handwerkliche Gesellschaft brauchte es das treue Zusammenwirken der ganzen Familie zum Überleben, und es brauchte vor allem auch einen Nachfolger des Familienoberhaupts samt tüchtiger und treuer Frau, damit der Betrieb, der die Lebensgrundlage für alle Familienangehörigen war, fortbestehen konnte. Dies galt in gewandelter Form auch in der industriellen Gesellschaft: Der Mann brauchte zu Hause eine Frau, auf die er sich ganz verlassen konnte, denn er musste ja den ganzen Tag auswärts im Betrieb arbeiten, um das Überleben der Familie zu sichern. Er war auch darum auf die Frau angewiesen, weil sie sich um die Kinder kümmerte. Es war damals sogar ein Zeichen gehobenen Lebensstandards, wenn diese nicht arbeiten »musste«, sondern der Mann genug Geld für die ganze Familie nach Hause brachte und sie deshalb bei den Kindern bleiben konnte.
Mit dem allgemein immer stärker wachsenden individuellen Bewusstsein seit Beginn der Aufklärung im 17. Jahrhundert und mit dem allmählichen Wandel von der industriellen zur post-industriellen Dienstleistungsgesellschaft schwanden allmählich diese Notwendigkeiten immer mehr: Für das wirtschaftliche Überleben war immer weniger unmittelbar die Familie bzw. der Mann allein nötig, und die Frauen wurden durch qualifizierte Ausbildung und häufigere Berufstätigkeit immer fähiger, für ihr Überleben – und wenn nötig auch für das der Kinder und der ganzen Familie – selbst zu sorgen. Die Verpflichtung, für das soziale System, dem man angehörte, und für das Überleben von Frau und Kindern zu sorgen, wurde also schwächer, das Bedürfnis hingegen, Glückserfüllung als Individuum und Person zu finden, wurde immer größer – sowohl bei den Männern, als auch bei den Frauen. Hier liegt ja auch der Ursprung der Frauenbewegung des vergangenen Jahrhunderts, in der erstmals in der Geschichte der kollektive Anspruch erhoben wurde, als Frau mit dem Mann gleichwertig zu sein und respektiert zu werden.
So erhebt sich hier natürlich auch die Frage:Gehört eine Verpflichtung zur Treue zum P