2. Tag
Grenzen, Grenzen, Grenzen!
Die Zwillingsbrüder
Es war einmal ein eineiiges Zwillingspaar, zwei kleine Buben. Wer sie sah, war von ihnen bezaubert. Stets umgab sie wie ein Fleck Sonnenschein ihre Fröhlichkeit. Wenn sie ihre Köpfe zusammensteckten und flüsterten, war ihr bald darauf folgendes Gelächter so hell wie ihr blondes Haar und so klar wie ihre wasserblauen Augen.
Von ihrer ungetrübten, unerschütterlichen Verbundenheit miteinander ging ein besonderer Zauber aus. Obwohl sie einander glichen wie ein Ei dem anderen, war es doch möglich, sie voneinander zu unterscheiden, wenn man sie einmal besser kannte. Derjenige Bruder, der als zweiter auf die Welt gekommen war, hatte ein kleines Grübchen in der Wange, nur in einer, nämlich der linken. Man musste schon recht genau hinsehen und es musste zumindest der Anflug von einem Lächeln auf seinem kleinen Gesicht stehen, aber dann konnte man ihn eindeutig von seinem Bruder unterscheiden. Wollten die beiden ihre Umwelt zum Narren halten, bemühten sie sich, todernste Mienen aufzusetzen, um die Entstehung des verräterischen Grübchens zu unterbinden. Es waren die Lieblingsminuten ihrer Mutter, die Kinder zu beobachten, wenn Besuch kam. Da standen die zwei gleich aussehenden Buben nebeneinander, die Köpfe gleich hoch gehalten, die Stirn beide in völlig gleich aussehende Falten gelegt, in dem angestrengten Versuch, die Lippen und damit die untere Gesichtshälfte stabil zu halten. Wenn sie den Kampf gegen ein aufsteigendes Grinsen zu verlieren begannen, begegneten sie dieser Situation durch eine rasche, synchron ausgeführte Linksdrehung, sodass der nun erst recht verdutzte Besucher nur die unverfänglichen rechten Gesichtshälften zu sehen bekam.
Es gab auch eine kleine Legende zur Entstehung des Grübchens im Gesicht des zweitgeborenen Zwillingsbruders. Es ließ sich nie klären, ob die Ereignisse tatsächlich so stattgefunden hatten, doch alle Beteiligten schworen, dass es genau so gewesen war: Als der erschöpften Mutter nach Entbindung das zweite Kind in den Arm gelegt wurde, löste sich eine ganz besonders große Freudenträne aus ihren Wimpern und fiel auf das Gesicht des Neugeborenen. Die Hebamme – so geht die Geschichte – sah dies und sagte: „An dieser Stelle wird man dich nun immer erkennen.“
Das Verwirrspiel mit der Umgebung verlor für die Brüder allmählich an Bedeutung, als ihre ersten Schuljahre vorüber waren, sie das Gymnasium besuchten und stets erwachsener wurden. Doch ihre gegenseitige Verbundenheit war unverändert stark zu spüren, selbst noch in der Hochschulzeit, als sie sich, wiewohl an derselben Fakultät, doch für unterschiedliche Studienrichtungen entschieden.
Beide waren immer gute Schüler gewesen und so erreichten sie auch ihren Studienabschluss ohne besondere Schwierigkeiten und zu gleicher Zeit. Was niemand bemerkt hatte, war ein in der Tat nach außen nicht sichtbarer Tempoverlust im Studienfortgang des zweiten Bruders, der sich während der Studienjahre immer wieder in der Situation sah, Mitstudierenden helfend viel Zeit zu widmen, selbst aber gelegentlich zu wenig Durchsetzungsvermögen im Umgang mit den universitären Strukturen an den Tag legte. Was niemand wusste, war, dass ihm der erste Bruder in der Endphase des Studiums geholfen hatte, andernfalls hätte der jüngere Zwilling wohl zumindest ein Semester mehr für seinen Studienabschluss benötigt.