Kapitel eins
Grizzly Falls, Montana
Januar
Hier muss es sein.
Leicht fassungslos nahm Jessica Williams das heruntergekommene Cottage in Augenschein und spürte, wie ihr Mut sank. Rapide. Ja, sie hatte sich einen abgeschiedenen Ort gewünscht, an dem sie zurückgezogen leben konnte, ohne die störenden Blicke neugieriger Nachbarn, aber diese baufällige Hütte mit ihrem moosüberzogenen Dach, der durchhängenden Veranda und der verrosteten Dachrinne war mehr als rustikal. Wenigstens waren die Fenster nicht vernagelt, und es gab eine Art Garage, doch um dorthin zu gelangen, würde sie erst einmal tonnenweise Schnee schaufeln müssen. Sie bezweifelte, dass es im Cottage eine Zentralheizung gab. Wenn sie einen sicheren Hafen erwartet hatte, wurde sie nun schwer enttäuscht.
Pech.
Für die absehbare Zukunft würde dieses kleine, achtzig Jahre alte Holzhäuschen, eingebettet in die dicht bewaldeten Ausläufer der Bitterroot Mountains, eines schroffen Gebirgszugs im Bundesstaat Montana, ihr Zuhause sein – ob es ihr gefiel oder nicht.
»Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht«, murmelte sie und sprang aus ihrem alten Geländewagen – ein Chevy, der schon über zweihunderttausend Meilen auf dem Tacho hatte. Ihre Füße trafen auf den unberührten Schnee. Die Luft war knackig kalt, der Schnee überfroren. Während der letzten fünfzig Meilen ihrer langen Reise hatte die Ölstands-Warnleuchte geblinkt, doch sie hatte nicht weiter darauf geachtet und einfach nur gebetet, dass sie es bis hierhin schaffen würde, bevor der Wagen seinen Geist aufgab. Nach über sechsunddreißig Stunden auf der Straße, in denen sie sich von Energie-Riegeln, tütenweise Doritos, Red Bull und mehreren Flaschen Wasser ernährt hatte, war sie endlich angekommen. Sie war todmüde, doch noch konnte sie sich nicht ausruhen.
Ein Blick über die Schulter auf die schmale Zufahrt, die durch die dichten Bäume auf die kleine Lichtung mit der Hütte führte, zeigte ihr, dass sie hier draußen wirklich mutterseelenallein war. Nur die Reifenspuren ihres Tahoe durchbrachen die geschlossene Schneedecke und zeugten davon, dass jemand in dem kleinen Cottage Quartier bezogen hatte.
Jessica Williams, rief sie sich in Erinnerung. Hier wohnt Jessica Williams. So heißt du jetzt. Jessica Williams. Der Name fühlte sich ungewohnt an, unangenehm wie ein kratziger Mantel auf nackter Haut, der erst eingetragen werden musste.
Bevor sie anfing auszuladen, stapfte sie einen Pfad zu der durchhängenden Veranda in den tiefen Schnee und stieg die beiden Stufen hinauf. Die Veranda war voller Schneeverwehungen, neben der Tür türmte sich ein großer Haufen der weißen Pracht, gespickt mit trockenen Blättern.
Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss. Sollte es verrostet sein, womit sie fast rechnete, hätte sie ein Problem. Eins von vielen, dachte sie und versuchte, den Schlüssel zu drehen. Er rührte sich nicht. Sie rüttelte daran. »Komm schon, geh auf«, murmelte sie angespannt. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft.
Sie hatte das Cottage übers Internet gemietet. Der Vermieter wohnte in einem anderen Bundesstaat. Sie hatte ihn im Voraus bezahlt, in bar, und er hatte keine Fragen gestellt. Sie hoffte nur, dass das auch so blieb.
Nach einem kräftigen Ruck gab das Schloss nach. Jessica stieß die Tür auf.
»Uff«, schnaufte sie und warf einen vorsichtigen Blick ins Hütteninnere. Ihre Hand fand den Lichtschalter neben der Tür, doch als sie darauf drückte, tat sich nichts, also kehrte sie zu ihremSUV zurück, um ihre Maglite und einen Rollkoffer zu holen, den sie hinter sich her durch den Schnee zerrte. Sie knipste ihre Taschenlampe an und ließ den grellen Strahl durchs Cottage gleiten. So wie es darin aussah, war seit über einem Jahrzehnt niemand mehr hier gewesen. Die Luft roch abgestanden, modrig, auf allem lag eine dicke Staubschicht. Ein alter Zweisitzer mit verschossenen Polstern und einem zerschrammten Holzrahmen tauchte im