178 Tage vor Weihnachten
Morgens
Die Stollen reichen bis unters Meer. Diesen Gedanken werde ich nicht los. Die Stollen reichen bis unters Meer. Anderthalb Kilometer, vielleicht auch noch weiter.
Ich stehe in meinem riesigen neuen Zuhause am Fenster des Alten Esszimmers und schaue nach Norden: zum Atlantik, den Klippen von Penwith und einer düsteren Silhouette. Das ist die Morvellan-Mine: eine schwarze Zwillingsgestalt aus Schacht- und Maschinenhaus.
Selbst an einem wolkenlosen Junitag wie heute wirken die Überreste von Morvellan seltsam traurig, vage vorwurfsvoll. Als wollten sie mir etwas erzählen, scheiterten aber an dem Versuch. Sie bleiben auf beredte Weise stumm. Geräusche macht nur der Atlantik; tosende Wellen, die mit den Gezeiten über die Stollen dahinjagen.
»Rachel?«
Ich drehe mich um.
In der Tür steht mein Mann. Strahlend weißes Hemd, makelloser dunkler Anzug, fast so dunkel wie sein Haar; der Wochenendbart ist verschwunden.
»Ich habe dich überall gesucht.«
»Entschuldige. Ich bin herumgegangen. Hab mich umgesehen. In deinem schönen Haus.«
»Es ist unser Haus, Liebes. Unseres.«
Lächelnd kommt er näher, und wir küssen uns. Es ist ein Morgenkuss, ein Ich-muss-zur-Arbeit-Kuss, der zu nichts weiter führt – und trotzdem macht er mich an, löst dieses verstörende, köstliche Gefühl in mir aus: Es kann jemand solche Macht über mich haben, und genau danach sehne ich mich.
David nimmt meine Hand. »Also. Dein erstes Wochenende in Carnhallow …«
»Mhm.«
»Erzähl – ich will wissen, wie’s dir geht! Ich weiß, es ist eine Herausforderung – so abgelegen und so viel zu tun. Ich könnte verstehen, wenn du Bedenken hättest.«
Ich ziehe seine Hand an meine Lippen und küsse sie. »Bedenken? Blödsinn! Ich finde es wunderbar! Ich liebe dich, und ich liebe dieses Haus. Alles liebe ich, die Herausforderung, Jamie, die Abgeschiedenheit; ich finde es wunderbar, wunderbar, wunderbar.« Ohne ein Zwinkern schaue ich ihm in die grüngrauen Augen. »Ich war noch nie so glücklich, David. In meinem ganzen Leben nicht. Es fühlt sich an, als wäre ich da angekommen, wo ich immer sein sollte. Und bei dem Mann, für den ich bestimmt bin.«
Wie überschwenglich! Was ist aus der resoluten, feministisch denkenden Rachel Daly geworden, die ich mal war? Wo steckt sie? Meine Freundinnen würden die Nase rümpfen über mich. Noch vor einem halben Jahr hätte ich selbst die Nase gerümpft: eine Frau, die ihre Freiheit und ihren Job und ihr vermeintlich aufregendes Londoner Leben aufgibt, um mit einem älteren, reicheren, größeren Witwer vor den Traualtar zu treten. Jessica, eine meiner besten Freundinnen, hat gelacht, als ich sie in meine Pläne einweihte.Mein Gott, Süße, du heiratest ein Klischee!
Für einen kurzen Moment hat das weh getan. Aber mir ist schnell klargeworden, dass es keine Rolle spielt, was meine Freundinnen denken, denn sie sind nach wie vor dort, in London, quetschen sich in überfüllte U-Bahnen und hocken in trostlosen Büros, wo sie kaum genug verdienen, um die monatlichen Raten für ihr Haus zu bezahlen. Sie krallen sich an London fest wie Bergsteiger auf halbem Weg nach oben an den Felsen.
Und ich klammere nicht mehr. Ich bin weit weg mit meinem Mann und seinem Sohn und seiner Mutter, hier unten am äußersten Ende von England, ganz im Westen von Cornwall, wo England, wie ich feststelle, anders ist, felsiger, e