: Hugo von Hofmannsthal
: Die Frau ohne Schatten
: Nexx
: 9783958705494
: 1
: CHF 0.90
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: Hauptwerk vor 1945
: German
Die Kaiserin der Traumlandes, halb Mensch, halb Tier, wirft keinen Schatten. Gelingt es ihr nicht, ihren Schatten zurückzugewinnen, droht ihrem Mann, dem Kaiser, die Erstarrung zu Stein. Hofmannsthal entwickelte aus dem Stoff zunächst das Libretto für die 1919 uraufgeführte Oper »Die Frau ohne Schatten« von Richard Strauss, um dann im gleichen Jahr die zugrundeliegende, psychologisch vertieftere Erzählung zu veröffentlichen.

Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal (1874-1929) war ein österreichischer Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker, Librettist und Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Er gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten des deutschsprachigen Fin de siècle und der Wiener Moderne.

Erstes Kapitel


 

Der Kaiser war bei der Kaiserin, die des Sommers wegen ihr Gemach auf der obersten Terrasse des blauen Palastes bewohnte. Die Amme verharrte ihrer Gewohnheit nach wachend auf der Terrasse und überdachte zornig das Geschick, das ihre Herrin, eine Fee und eifersüchtig behütete Tochter des mächtigen Geisterfürsten, als Gattin in die Hände eines sterblichen Mannes gegeben hatte, mochte er gleich der Kaiser der Südöstlichen Inseln sein. In ihrer Einbildung verweilte sie, wie so oft, mit dem ihr anvertrauten Feenkind noch auf der einsamen kleinen Insel, umflossen von dem ebenholz-schwarzen Wasser des Bergsees, den die sieben Mondberge einschlossen, wo sie stille abgeschiedene Jahre verbracht hatten. Wieder meinte sie dem halbwüchsigen Kind zuzusehen, das sich vor ihren Augen in einen hellroten Fisch verwandelte und leuchtend die dunkle Flut durchstrich, oder die Gestalt eines Vogels annahm und zwischen düsteren Zweigen hinflatterte. Aber mitten in ihre träumenden Gedanken brach mit Gewalt das widerwärtige zweideutige Gefühl der Gegenwart. Mit einem unwillkürlichen Seufzer öffnete sie ganz die Augen und spähte in die schöne Finsternis hinaus. Eine Erhellung über dem großen Teich fiel ihr bald auf. Das Leuchtende kam rasch näher, die Baumwipfel empfingen, wie es darüber hinging, einen Schein. An ihrem Bangen fühlte sie, dass es ein Wesen aus jener Welt war, der sie angehörte und der sich zuzurechnen sie seit einem Jahr kaum mehr den Mut hatte: doch war es nicht Keikobad, der Geisterkönig selber, der Vater ihrer Herrin, sonst hätte sie heftiger gezittert. Wie die Terrasse sich erhellte, traf sie der Anhauch der Geisterwelt bis ins Mark. Der Bote stand vor ihr auf dem flachen Dach, er trug einen Harnisch aus blauen Schuppen, der seinen gedrungenen Leib eng umschloss. Sein blauschwarzes Haar war geflochten, und seine Augen funkelten. »Wer bist du?« fragte die Amme erschrocken, »dich habe ich nie gesehen.« »Ich bin der Zwölfte, das mag dir genügen«, entgegnete der Bote. »Es ist an mir, zu fragen, an dir, zu antworten. Trägt sie diesmal ein Ungeborenes im Schoß? Ist das Verhasste in diesem Monat geschehen? Dann wehe dir und mir und uns allen.« Die Amme verneinte heftig. »Also wirft sie noch keinen Schatten?« fragte der Bote weiter. »Keinen!« rief die Amme, »ich darf es dir beteuern wie den Elf, die vor dir kamen, sooft ein Mond geschwunden war. So wenig wirft sie Schatten, als wenn ihr Leib von Bergkristall wäre. Ja, was sie hinter sich lässt, Steine, Rasen oder Wasser, leuchtet nachher stärker auf, so, als wären es Smaragden und Topas.« »Danke deinem Schöpfer, dass dem so ist, danke ihm auf den Knien, leichtfertiges strafbares Weib.« »Leichtfertig! Strafbar! Sollte ich einen glitschigen Fisch im Wasser mit meinen Händen packen? Konnte ich eine junge störrische Gazelle an den Hörnern festhalten? Warum hat er ihr die Gabe der Verwandlung gegeben? So war sie ja schon den Menschen verfallen! Was fruchtete meine Wachsamkeit, meine beständige Angst!« »Geprüft müssen alle werden«, entgegnete der