Stille.
Dies war mit Abstand das schönste und zugleich abstoßendste, dass er je zuvor gesehen hatte. Fahl, kalt und vom Mondlicht beschienen, lag dort ein Mensch auf dem Boden, den Kopf in seltsamem Winkel vom Oberkörper abgespreizt. Seine Hände lagen weit von sich gestreckt, die eine auf einem Haufen aus frischer Muttererde, die andere zur Faust geballt. Er war sich nicht sicher, ob er je etwas gesehen hatte, das eine größere Harmonie aufwies. Der tote Körper dieses Menschen, und der Glanz in seinen Augen, als ob ihn etwas sehr erregt hatte, Sekunden bevor er von dieser Welt verschwand, hinterließen einen eigentümlichen Eindruck in der Seele des Betrachters. Der Betrachter war Charles oder auch Charlie, wie ihn seine Freunde nannten. Auf seine Mitmenschen wirkte er meist ruhig, besonnenen und doch irgendwie autistisch. Er hatte halblange braune Haare, trug keine Brille und war schlank, nicht übermäßig groß und breit aber doch stabil gebaut. Er wirkte gestählt und kampferprobt. Gelassen. Charlie war 33 Jahre alt und wusste genug vom Leben, von seinem Job, um zu wissen, dass man bei einer solchen Leiche nicht den Kopf verlieren musste. Er erhob sich langsam. Sorgsam hatte er etwas Erde aus dem Beet, in dem der Tote lag, in seine Hand aufgenommen, führte diese nun zu seinem Gesicht und schnupperte daran. Er war sich nicht sicher, weshalb es ihn so sehr erregte, aber möglicherweise war es der Kontrast aus lebendigem erdigen Wurzelwerk und der Sinfonie des Todes vor seinen Füßen. Er musste grinsen, denn ihm war natürlich völlig klar, dass “Sinfonie” möglicherweise nicht der richtige Ausdruck an dieser Stelle war, ist sie es doch, die verschiedenste Melodien und Themen sorgsam miteinander verbindet und aus ihr eine größere, höhere Komposition schafft. Charlie blinzelte. Erneut kniete er sich neben die Leiche in den weichen, erdigen Boden und fuhr mit der Hand über die Stirn des Toten. Seine Haut war kalt und verquollen. Sie hatte sich entfernt, von der warmen Hülle, die sie ihrem Träger einst gewesen war, und hin gewandelt zu einer matten, kühlen Schicht Wachs, die sich über den knochigen Körper spannte.
“Wie würden Sie denken sieht er aus? Eher ruhig oder aufgewühlt? Eher gefasst oder erschrocken? Wie würden Sie denken sieht er aus?” Charlie sah auf. Hinter ihm stand, völlig korrekt und adrett gekleidet, eine ältere Frau, die allerdings noch nicht lange im Geschäft war. Ihre zarten Falten hoben sich aufgrund ihres vor Abscheu gespitzten Mundes deutlich hervor und ihre Augen warteten zusammengekniffen auf eine Antwort von Charlie. Und doch hatte der Tonfall der Frau Charlie zu denken gegeben. Ihre Worte waren mehr ein Hauch gewesen, ein leiser Luftzug, als ob sie zu sich selbst gesprochen hatte. Als ob sie etwas mit der Leiche verband, eine bestimmte Emotion. Er bekam Angst, dass sie womöglich unter Schock stand, beim Anblick dieser Leiche kein Wunder, wie Charlie naserümpfend feststellte. Er räusperte sich und dachte insgeheim, dass er es begrüßen würde, wenn sie ihm noch etwas Zeit geben würde. Als ob sie geahnt hatte, was er gerade dachte, verschwand sie und ließ Charlie erneut in Stille zurück. Doch dieser Moment der Ruhe, den er so gerne gehabt hätte, für sich, für die Leiche, für seine Arbeit, war nur von kurzer Dauer:
Er tat erneut sich mit fast liebevoller Miene an der Leiche gütlich und wollte sich nun mit ihrer Kleidung beschäftigen, als knatternd und fauchend zwei große Leuchtscheinwerfer aufleuchteten und die Symbiose von Leben und Tod, von Licht und Schatten zerstörten. Empört erhob sich Charlie. Sie ließen ihn tatsächlich nicht in Ruhe arbeiten. Im hellen, sterilen Licht der Scheinwerfer konnte er deutlich verschiedene Wunden an den zum Teil nackten und nicht von Kleidungsstücken bedeckten Stellen des Oberkörpers erkennen. Mittlerweile dunkle Blutergüsse, ein paar gebrochene Rippen, erkennbar durch kleine Ausbuchtungen an der Außenhaut, an denen sich der geborstene Knochen in das Fleisch bohrte. Für Charlie war klar, dass dieser Mann einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Durch stumpfe Gegenstände, Keine Klingen, keine Sägen, kein spitzer Dolch etwa. Ne