1. KAPITEL
Nachts war es am schlimmsten.
Nachts drängten all die Erinnerungen, gute wie böse, schmerzhaft zurück in sein Bewusstsein, ohne Pardon, ohne Rücksicht auf Verluste. Die bösen Erinnerungen drehten sich alle darum, dass er Lorna verloren hatte, dass er ohne sie auskommen musste.
Man möchte meinen, dass man sich nach zwei Jahren endlich mit den Tatsachen abgefunden haben sollte, mit der Leere, dem Schmerz, dachte J.T. Walker, während er in seinem Streifenwagen eine lange, einsame Wegstrecke abfuhr.
Na ja, vielleicht hatte er sich abgefunden.
Immerhin war er noch da, er lebte noch. Ein Tag reihte sich an den anderen wie riesige, unregelmäßige Perlen. Und er ging nicht mehr wie zu Anfang, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, wie ein Schlafwandler durch sein Leben. Wenn das nichts zu bedeuten hatte!
Ja, dachte er bitter, es bedeutet, dass ich überlebt habe.
Fragte sich nur, wofür er überlebt hatte. In seinen Augen für gar nichts. Lorna war nicht mehr da, seine Hoffnung auf eine Familie war dahin. Ausgelöscht durch den Leichtsinn eines betrunkenen Autofahrers am Silvestermorgen, mit einer einzigen schrecklichen Lenkbewegung, einer einzigen grauenhaften Fehleinschätzung.
Aus, einfach so.
Er blieb zurück mit seinem Schmerz, musste so gut er konnte weitermachen in einer Welt, die es wagte, sich ohne Lorna weiterzudrehen.
Ohne Lachen, ohne Freude.
Hätte er bloß keine Überstunden gemacht, keine zusätzliche Schicht gefahren, um den nächsten Tag freizunehmen und mit seiner Frau zu verbringen. Hätte er bloß nicht gesagt, sie sollte schon vorausfahren zu ihren Eltern und er würde dann zu ihnen stoßen, sobald er Feierabend hatte.
Hätte, hätte …
Verdammt, jetzt wurde er schon wieder schwermütig.
Wütend auf sich selbst schüttelte J.T. den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, so, wie ein nasser Hund sich das Wasser aus dem Fell schüttelt.
Die Gedanken verschwanden nicht so leicht wie Wassertropfen, doch J.T. war Polizist und musste seine Pflicht erfüllen. Er musste die dunklen Straßen abfahren und dafür sorgen, dass die Einwohner von Bedford in Kalifornien weiterhin friedlich in ihren Betten schlafen konnten. Gedanken an die Vergangenheit nachzuhängen, über Dinge zu grübeln, die sich beim besten Willen nicht mehr ändern ließen, war absolut sinnlos.
Wann würde er das endlich akzeptieren?
Lorna, verdammt noch mal, warum hast du mich alleingelassen? Warum?
Die stumme Frage hallte in der Stille des Streifenwagens durch seinen Kopf und verhöhnte ihn. Ein Knistern ertönte aus dem Radio, doch es folgte keine Meldung. Nur statisches Rauschen. Die Nacht war friedlich. Überall war es friedlich, nur nicht in seinem Kopf.
Müde, wütend auf sich selbst umspannte J.T. das Lenkrad des Streifenwagens, in dem normalerweise Officer Adam Fenelli mitfuhr.
An diesem Abend war J.T. allein.
Fenelli hatte sich bei seinem jüngsten Sohn mit einer Erkältung angesteckt und sich für den Abend krankgemeldet. Die Wache war ohnehin schon unterbelegt, J.T. stand kein Partner zur Verfügung, und niemand bot ihm an, die Schicht mit ihm zusammen im Streifenwagen zu übernehmen.
Was er niemandem verübeln konnte. In seiner Gesellschaft fühlte sich keiner mehr richtig wohl, denn er zog es vor, schweigend seine Streife zu fahren. Ohnehin eher ein stiller Typ, hatte er inzwischen überhaupt keine Lust mehr auf oberflächliche Gespräche, nur, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Zeit verging so oder so, ob er sich nun unterhielt oder nicht. Fenelli schien seine Wortkargheit gar nicht aufzufallen, weil er genug für zwei redete.
Ein Lächeln umspielte J.T.s Mundwinkel. Fenelli war ein guter Mensch, der unermüdlich versuchte, an ihn heranzukommen, ihn zum Auftauen zu bringen. Die Mühe hätte der ältere Polizist sich sparen können.
J.T. hatte einfach nichts mehr zu sagen.
In den Straßen von Bedford herrschte Stille, die Schaufensterbeleuchtungen waren gedimmt. Straßenlaternen ragten wie dürre Wachtposten in die Dunkelheit und verströmten ihr Licht vor dem tintenschwarzen Himmel. Es war fast Mitternacht.
Da Wochentag war, waren so ziemlich alle zu Hause und schliefen einem neuen Arbeitstag entgegen. Die konnten schlafen. Er nicht. Deshalb hatte er freiwillig die Nachtschicht übernommen und versuchte auf diese Weise, den hellen Tag zu meiden.
Zu seiner Verwunderung hatte Fenelli mit ihm die Schicht gewechselt und erklärt, dass die Veränderung ihm guttun würde. J.T. wusste jedoch, dass der ältere Officer sich Sorgen um ihn machte, aber helfen konnte Fenelli ihm nicht. Das war vergebliche Mühe.
J.T. trat einfach nur auf der Stelle.
Wieder drohte ein Depressionsschub und hätte ihn wohl überrollt, wenn er nicht im selben Augenblick etwas auf der Straße bemerkt hätte. Weiter vorn, knapp hinter dem Einkaufszentrum und ein paar Meilen vor dem nächsten Wohngebiet, meinte er, zwei rote