2. KAPITEL
Judith legte den Hörer auf und sank auf das von Kekskrümeln und Bauklötzen bedeckte Sofa. Die Bitte an ihre Mutter hatte zwar nicht das gewünschte Ergebnis gehabt, doch deren unverblümte Art hatte ihr geholfen, die Dinge wieder positiv zu sehen.
Wenn ich die Zeit fünf Minuten zurückdrehen könnte, würde ich Mum nicht anrufen, dachte Judith und zuckte die Schultern. Andererseits war es nicht verwunderlich, dass sie die Verantwortung hatte abgeben wollen. Schließlich war sie erschöpft, hatte vor Kurzem ihren Bruder verloren und war praktisch über Nacht Mutter von drei kleinen Kindern geworden. Vielleicht sollte sie also nicht zu hart mit sich ins Gericht gehen.
Mum hat recht, dachte sie. Ich sollte mich zusammenreißen und das Beste aus der Situation machen. Schließlich gab es unzählige alleinerziehende Mütter, die es wesentlich schwerer hatten. Und eigentlich machte sie ihre Sache gar nicht so schlecht.
Sie hatte eine starke Persönlichkeit, und langsam stellte sich ihr Optimismus wieder ein. Sie genoss die Ruhe, die sicher nicht lange andauern würde. Jeden Moment konnte das Chaos wieder ausbrechen. Liebevoll betrachtete sie die schlafende Amy. Sophia saß im Schneidersitz auf dem Teppich und malte, und Joseph …
Du meine Güte, wo war denn Joseph? Krampfhaft überlegte Judith, wann sie ihn zuletzt gesehen oder seine Stimme gehört hatte. Mit einem Mal erschien ihr die Ruhe unheilverkündend. Sie sprang auf und rannte ins Schlafzimmer, das jetzt als Kinderzimmer diente. Es war leer, ebenso wie das Badezimmer. In dem kleinen, aber sehr geschmackvoll eingerichteten Apartment gab es nicht allzu viele Möglichkeiten, wo sich ein Kind verstecken konnte.
Vor Angst klopfte ihr Herz wie wild. Sie lief zurück ins Wohnzimmer.
„Weißt du, wo Joseph ist, Sophia?“, fragte sie betont ruhig, um das kleine Mädchen nicht unnötig zu erschrecken.
Sophia hob den Kopf und strich sich mit dem drallen Händchen eine Locke aus dem Gesicht. „Er ist zu dem netten Mann mit dem Computerspiel gegangen.“
Judith ging neben ihr auf die Knie. „Zu Marco?“, erkundigte sie sich erleichtert.
Sophia nickte und wandte sich wieder ihrem Bild zu. „Ja. Wir mögen Marco gern. Er ist sehr nett.“
Judith nickte abwesend. Aus irgendeinem Grund war sie davon überzeugt, dass ihr Neffe bei Marco gut aufgehoben war, auch wenn der Bewohner des luxuriösen Penthouse ihr manchmal etwas unbeholfen vorkam.
Hoffentlich ist Joseph heil bei Marco angekommen, dachte sie. Und wenn er jetzt verloren gegangen war? Man hörte doch fast jeden Tag furchtbare Berichte …
Nicht in Panik geraten, ermahnte sie sich. Wenn sie Joseph wieder gefunden hätte, würde sie ihn nie wieder aus den Augen lassen. Sie schickte insgeheim ein Stoßgebet zum Himmel und hob das schlafende Baby aus