: Burkhard Wetekam
: Schwarzes Gold am Bodden
: Hinstorff Verlag
: 9783356020502
: 1
: CHF 9.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Hört auf, nach Öl zu bohren. Wollt ihr noch mehr tote Kinder?' Ein grausiger Fund an einem kühlen Ostermontagmorgen lässt den Ex-Zeitungsredakteur Tom Brauer not- gedrungen zum Privatdetektiv werden: Auf ein Zeesboot gebettet treibt Leo, der zehn- jährige Sohn des Bauunternehmers Günter Rakowsky, tot auf dem Barther Bodden. Die Entdeckung der Leiche fällt ausgerechnet in die Zeit des offiziellen Ölförderbeginns vor den Toren der kleinen Boddenstadt Barth. Ein Zufall? Tom gerät zunehmend in den Sog widerstreitender Interessen, zweifelhafter Komplizenschaften und der kriminellen Vergangenheit von Leos Vater. Und was hat das mysteriöse Amulett zu bedeuten, das neben Leo im Boot gefunden wurde?

Marco Voss, geboren 1963 in Rostock, studierte an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg die Fachrichtung Produktion. Danach war er u. a. als Aufnahmeleiter beim Fernsehen und als Produzent fu?r Film- und TV-Produktionen ta?tig. Heute ist er Mitarbeiter der Filmlocation Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin.

Dienstag: Öl


-8-


Um halb zehn zog Tom die schwere Eingangstür zum Barther Rathaus auf. Er fühlte sich erschöpft und nicht im Mindesten dazu aufgelegt, sein Konzept für eine neue touristische Stadtbroschüre vorzustellen. Als er am Morgen aufgewacht war, hatte er noch vorgehabt, den Termin abzusagen. Aber dann hatten sich sein Pflichtbewusstsein und vor allem der Gedanke an seinen prekären Kontostand durchgesetzt. Er stieg die Treppe zum ersten Obergeschoss hinauf und folgte dem Flur bis zur letzten Tür, die wie üblich offen stand. Sven Dornkop, Marketing- und Tourismusbeauftragter der Stadt Barth, kam ihm mit jugendlich wippendem Schritt entgegen.

»Hallo, schön dich zu sehen.« Es gefiel Dornkop möglichst viele Leute zu duzen, Leute wie Tom sowieso. Dornkop, vor einem halben Jahr aus Schwerin gekommen, war einer der jüngsten Angestellten im Rathaus und ließ keine Gelegenheit aus, für eine moderne Verwaltung zu werben. »Sag mal, warst du derjenige, der diesen Jungen gefunden hat?«

»Woher weißt du das?«

»In der Ostsee-Zeitung stand etwas von demJournalisten Tom B. Da dachte ich mir: Das kann doch nur einer sein.« Mit einer einladenden Handbewegung bat er Tom hinein in sein Büro. Sven ließ sich auf seinen ergonomischen, in alle erdenklichen Richtungen schwenkbaren Bürostuhl fallen. Seine Stimme klang etwas belegt. Er war es nicht gewohnt, über so schreckliche Dinge zu reden wie über einen toten Jungen. Lieber sprach er über die schönen Seiten der Stadt: das bunte Leben am Hafen, die schmucken Zeesboote mit ihren braunen Segeln und wogende Schilfgürtel im Sonnenschein.

»Es war kein schöner Tag gestern«, sagte Tom. »Und ich habe heute Nacht nicht viel geschlafen. Aber es muss ja weitergehen. Deshalb bin ich hier.«

Es kam ihm unwirklich vor, mit Sven Dornkop über seine Erlebnisse vom Vortag zu sprechen, in diesem gepflegten Büro mit seinen Sprossenfenstern, den blanken Holzdielen und den dunkel gebeizten Möbeln. Es war das Büro einer aufstrebenden Nachwuchskraft, die noch viel vorhatte.

Sven strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sein blondes Haar war modisch geschnitten, ein Pilzkopf mit Schlagseite. »Ja, eine schlimme Geschichte. Sehr schlimm. Ein totes Kind in einem Kahn, der auf dem Wasser treibt – das könnte eine Szene aus einem Horrorfilm sein.«

Er hob die aktuelle Ausgabe der Ostsee-Zeitung hoch und ließ sie wieder auf die Schreibtischplatte fallen. Tom hatte am Morgen den Lokalteil gründlich gelesen. Eine ganze Seite hatten sie über den toten Jungen auf dem Bodden geschrieben, mit vielen Fotos vom Hafen, von der Polizeiabsperrung und dem verkommenen Zeesboot, darin die Plane, mit der Tom den Jungen abgedeckt hatte. Eine Detailaufnahme zeigte die Hand des Jungen, die auf den Bootsplanken lag, darunter das bronzefarbene Metallobjekt.

Sven fand keinen Einstieg in das eigentliche Thema. Die Sache mit dem Jungen schien ihn ernsthaft mitgenommen zu haben. »Hast du mitbekommen, dass auch das Fernsehen und einige überregionale Zeitungen über den Jungen berichtet haben? Jetzt haben sie ein ganz finsteres Thema, das sie mit dem Namen der Stadt Barth in Verbindung bringen können.«

Tom hatte keine Lust mehr, über den Jungen zu sprechen. »Ist das Image der Stadt wirklich das größte Problem, wenn ein Kind ums Leben kommt?«

»Nein, nein, natürlich nicht!«

»Wir wollten über die neue Stadtbroschüre sprechen, oder?«

Sven richtete sich auf und lächelte verkniffen. »Ja – doch – richtig.« Er erhob sich umständlich, warf einen Blick aus dem Fenster, um es dann zu schließen.

Tom verlor die Geduld und legte seine Mappe auf den Schreibtisch. »Ich weiß, dass die Broschüre jetzt schnell fertig werden muss. Deshalb habe ich schon angefangen und ein inhaltliches Konzept entwickelt. Außerdem habe ich mir die nächsten zwei Wochen komplett freigehalten und alle Anfragen abgelehnt. Das Programmheft für die Wallensteintage in Stralsund muss in diesem Jahr jemand anderes texten. Ich kann morgen loslegen.«

Sven lehnte mit dem Rücken am Fenster und machte keinerlei Anstalten, sich mit dem Papier zu beschäftigen, das Tom auf seinen Platz gelegt hatte. »Ja, das ist schön … aber …«

»Wir haben ja besprochen, dass wir ganz auf das Thema Natur setzen. Natürlich werden wir auch die Marienkirche und das Adlige Fräuleinstift herausheben, aber alles einbetten in das Erlebnis einer Landschaft, von der wir immer wieder sagen, dass sie vielfältig und einmalig ist. Wir sollten bei den Naturfotos unbedingt auf Qualität setzen. Ich kenne da einen sehr guten Fotografen, der …«

»Du hättest die Sachen gar nicht auspacken müssen.«

»Was? Ich habe alles so vorbereitet, wie besprochen.«

»Wir werden die Broschüre nicht machen.«

»Wie bitte!?«

»Die Stadt verwendet in diesem Jahr noch einmal die alte Broschüre. Für das kommende Jahr werden wir ein komplett neues Tourismuskonzept entwickeln.«

Tom blickte ratlos zwischen seinen Papieren und Sven hin und her. Der lehnte mit dem Rücken an einem schmalen Stück Wand zwischen zwei Fenstern. Er wirkte wie eine ungünstig platzierte Skulptur.

»Wir hatten das fest vereinbart!«

»Ich weiß.«

»Ich habe mich auf dich verlassen!«

Sven strich sich ein weiteres Mal durch die Haare. »Tut mir leid.«

Tom spürte, dass er seine Enttäuschung nicht verbergen konnte. Er hatte es nur in ganz seltenen Momenten bedauert, dass er vor einigen Jahren seine feste Stelle bei der Lokalzeitung verloren hatte. Als selbstständiger Texter verdiente er weniger, sicher, aber genug, um zu überleben. Er konnte seine Zeit viel freier einteilen, konnte Aufträge ablehnen, wenn sie ihm nicht passten. Alles in Maßen natürlich. Aber es war ein besseres Leben mit weniger Zwängen. Jetzt, in diesem Augenblick, wurde ihm klar, dass man die Sache auch ganz anders sehen konnte: Dass er nur ein rechtloser Lohnschreiber war, der sich darauf verlassen musste, dass seine Auftraggeber ihr Wort hielten. Der allen möglichen Leuten gute Tipps geben konnte, aber nie die Chance bekommen würde, das durchzusetzen, was er für richtig hielt. Er war frei, aber rechtlos. Ein Sklave ohne sichtbare Fesseln. »Du musst mir das bitte erklären.«

Sven nickte. »Du weißt sicher, dass in den kommenden Tagen die erste von voraussichtlich sieben Erdölförderstellen ihren Betrieb aufnimmt. Unmittelbar vor den Toren der Stadt Barth.«

»Das ist seit zwei Jahren Stadtgespräch.«

»Du weißt aber wahrscheinlich noch nicht, dass sich schon jetzt ein deutlicher Rückgang der Übernachtungszahlen abzeichnet. Wir haben vor wenigen Wochen einige Pensionen und Zimmervermieter gefragt. Die meisten bestätigen den Abwärtstrend. Die überregionalen Medienberichte haben uns nicht gutgetan. Schlagzeilen wieFracking in Barth oderQuecksilberalarm am Nationalpark sind nicht gerade hilfreich bei der Werbung um Touristen.«

»Hat denn jemals irgendeine Messung etwas von einer Quecksilberbelastung ergeben?«

»Natürlich nicht! Bei den Testbohrungen gab es keine Zwischenfälle. Aber es reicht, wenn ein paar voreilige Journalisten meinen, alle möglichen Schreckensszenarien herbeireden zu müssen. Kein Tourist wird in der Stadt irgendetwas davon bemerken, dass in der Nähe Öl gefördert wird. Aber was hilft das? Es kommt auf das Klima an, die Stimmung, die die Leute mit einem Ort verbinden.«

»Und wäre es nicht gerade jetzt wichtig, die Qualitäten der Stadt doppelt und dreifach zu unterstreichen? Wenn sich an diesen Qualitäten ja nichts Grundlegendes geändert hat.«

Sven lachte kurz auf, als ob er einen plötzlichen Schmerz überspielen müsste. »Na klar – nur zu. Du kennst den Haupttext auf unserer Internetseite?Wo sanfte Hügel dem Lande entfliehen, das satte Grün der Wälder am Horizont das Blau des Himmels umwirbt; der Wind, die Sonne und leise Wellen den Strand streicheln … und so weiter. Das satte Grün, Wind und Wellen, die den Strand streicheln. Und in den Fernsehnachrichten zeigen sie diesen hässlichen Bohrturm. Öllachen, Männer in Schutzanzügen, Lastwagen mit Chemikalientanks. Das sind zwar nur ein paar kleine Betriebsstätten, irgendwo im Wald versteckt, aber diese Bilder prägen das Image der Stadt – seit zwei Jahren!«

»Ja, und? Ihr müsst kämpfen! Wenn das alles nur Gespenster sind, dann …«

»Wir werden kämpfen. Aber mit einer Broschüre und ein paar netten Texten kommen wir dagegen nicht an. Wir müssen durch dieses Jahr hindurch. Wenn sich die Leute an die Ölförderung...