Wahre Kurzgeschichte
Im Café saßen zwei Männer am Tisch neben meinem. Der eine war jünger, der andere älter. Sie hätten Vater und Sohn sein können, aber es war nichts von der geübten Zurückhaltung zu spüren, nichts von dem wolkigen Zorn, der fast immer zwischen Vätern und Söhnen da ist. Vielleicht waren sie das Ergebnis einer elterlichen Scheidung, der Vater jetzt, wo der Sohn richtig erwachsen geworden war, sehr gern Vater, der Sohn nun, wo sein Vater ihm zumindest für die Länge einer Tasse Kaffee gegenübersaß, sehr gern ein Mann. Nein. Der Ältere war eher ein Freund der Familie, einer, der im Sommer an den Wochenenden bei dem kleinen Jungen, der ein Scheidungskind ist, Vaterstelle vertritt, ein Mann, der weiß, welche Verantwortung er trägt, und jetzt, sieh an!, ist der Junge erwachsen geworden und der Mann ein älterer Mann, und es gibt, unausgesprochen, dieses Einverständnis zwischen ihnen usw.
Ich hörte auf, mir die beiden zusammenzufabulieren. Es gehörte sich irgendwie nicht. Stattdessen horchte ich auf das, was sie sagten. Sie unterhielten sich über Literatur, und das interessiert mich zufällig, obwohl es viele Leute ja nicht interessiert. Der junge Mann sprach über den Unterschied zwischen dem Roman und der Kurzgeschichte. Der Roman, sagte er, sei eine schlappe alte Hure.
Eine schlappe alte Hure!, sagte der Ältere und riss erheitert die Augen auf.
Sie stehe zu Diensten, sei gemütlich und warm, man kenne sie, sagte der Jüngere, aber eigentlich sei sie ein bisschen verbraucht, eigentlich ein bisschen zu träge und ausgeleiert.
Träge und ausgeleiert!, sagte der Ältere lachend.
Im Vergleich dazu sei die Kurzgeschichte eine gewandte Göttin, eine schlanke Nymphe. Weil so wenige die Kurzgeschichte gemeistert hätten, sei sie immer noch ganz gut in Form.
Gut in Form! Der Ältere lächelte breit bei diesen Worten. Er war wohl alt genug, um sich an Zeiten in seinem Leben zu erinnern so lange war es noch gar nicht her , da wäre es zumindest ein bisschen ungehörig gewesen, solche Reden zu führen. Ich überlegte träge, mit wie vielen der Bücher bei mir zu Hause ich ins Bett gehen würde und wie gut die wohl im Bett wären. Dann seufzte ich, zog mein Handy heraus und rief meine Freundin an, mit der ich normalerweise freitagvormittags in dieses Café gehe.
Sie weiß eine ganze Menge über die Kurzgeschichte. Sie hat einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, welche zu lesen, darüber zu schreiben, sie im Unterricht durchzunehmen, sogar ab und zu selber welche zu schreiben. Sie hat mehr Kurzgeschichten gelesen, als die meisten Leute wissen (oder wissen wollen), dass es gibt. Das kann man wohl eine Liebe fürs Leben nennen, dabei war meine Freundin noch gar nicht so alt, an diesem Vormittag erst in den ausgehenden Dreißigern. Eine Liebe fürs bisherige Leben also. Aber sie wusste schon mehr über Kurzgeschichten und über die Menschen auf der ganzen Welt, die welche schreiben und geschrieben haben, als jeder andere, dem ich je begegnet bin.
Sie war an diesem bestimmten Freitag vor ein paar Jahren im Krankenhaus, denn eine Chemotherapie hatte jedes einzelne ihrer winzigen weißen Blutkörperchen zerstört, und danach hatte sie sich eine Entzündung in einem Weisheitszahn eingefangen.
Ich wartete, während mir die Automatenstimme der Krankenhaustelefonanlage alles über sich erzählte, mir dann roboterhaft die Nummer ansagte, die ich gerade gewählt hatte, dann den Namen meiner Freundin er lautet Kasia falsch aussprach, mir anschließend auf Heller und Pfennig genau mitteilte, wie viel man mir dafür berechnete, dass ich mir das alles anhören durfte, und mir dann sagte, was es pro Minute kosten würde, mit meiner Freundin zu sprechen. Danach verband sie mich.
Hi, sagte ich. Ich bin s.
Bist du am Handy?, sagte sie. Nicht, Ali, das ist über das System zu teuer. Ich ruf dich zurück.
Nicht nötig, sagte ich. Ist bloß ein Quickie. Hör mal. Ist die Kurzgeschichte eine Göttin und eine Nymphe, und ist der Roman eine alte Hure?
Ist was was?
Eine alte Hure, à la Dickens vielleicht, sagte ich. Wie die Prostituierte in dem einen Buch, die David Niven erst mal beibringt, wie das mit dem Sex geht.
David Niven?, sagte Kasia.
Du weißt schon. Die Prostituierte inVielleicht ist der Mond nur ein Luft