: Michele Serra
: Kleine Feste Geschichten und Beobachtungen
: Diogenes
: 9783257607192
: 1
: CHF 22.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 196
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Michele Serra beobachtet seine Nachbarn in den Hügeln um Bologna: zum Beispiel einen Mann, der einen atheistischen Ritus an einem Fluss zelebriert. Oder ein zittriges altes Ehepaar bei seiner täglichen ?happy hour?. Kleine Feste, die authentischer sind als große Zeremonien - und Magie in den Alltag bringen. Wie schon im Bestseller ?Die Liegenden? erweist sich Michele Serra als feinsinniger Betrachter der Gegenwart.

Michele Serra, geboren 1954 in Rom, ist landesweit berühmt für seine Kolumnen in ?La Repubblica? und ?L'Espresso?. Sein Buch ?Die Liegenden? über eine Vater-Sohn-Beziehung war international ein Riesenerfolg. Michele Serra lebt in Mailand und im Apennin in der Nähe von Bologna.

{9}Manchmal sind wir ganz ergriffen und wissen nicht, wem davon erzählen


Saletti wollte beten, doch er glaubte nicht an Gott.

Versucht ruhig, den Satz euren Fähigkeiten oder Überzeugungen entsprechend zu verkomplizieren. Vielleicht gelingt es euch, daraus intellektuelle Genugtuung zu ziehen. Doch das ändert nichts daran, dass das Problem, obwohl unlösbar, für Saletti ein absolut simples war. Die Summe zweier Gewissheiten: das Bedürfnis zu beten, die Nichtexistenz Gottes.

Die Nichtexistenz Gottes, weil Saletti wusste, dass es keinen Gott gibt.

Das Bedürfnis zu beten, weil Saletti dennoch seine Dankbarkeit bezeigen wollte.

Obwohl er ein einsamer, der Leere mancher Tage wegen trübsinniger Rentner mit einigen Wehwehchen war, überfiel ihn häufig eine eigentümliche Überreiztheit, die seine Sinne flirren ließ wie früher, als er noch ein Kind war.

{10}Es war eine Art Daseinserschütterung, eine derart starke Erfahrung des In-der-Welt-Seins, dass er nicht anders konnte, als ihr Ausdruck zu verleihen und sie zu zelebrieren. Wenngleich vermutlich die meisten (alle?) Religionen aus dem dringenden Bedürfnis entstanden sind, Angst, Schmerz, Verwundbarkeit und den Tod zu ergründen, wurde Saletti doch vom gegenteiligen Impuls getrieben: Er wollte das Glück ergründen, am Leben zu sein. Dieses Mysterium schien ihm nicht weniger verpflichtend als die Trauer, wieder verschwinden zu müssen.

Er wünschte sich sehnlichst eine Bezugsperson, bei der er sich hätte bedanken oder mit der er seine Freude hätte teilen können. Doch mit wem, wenn es keinen Gott gab? In Fällen wie diesen sagen die modernen Priester, dass schon die Suche an sich ein Ausdruck des Glaubens sei. Eine Menge Briefwechsel werden von diesem Hauch des Trostes durchweht. Der Atheist, der mit letzter Kraft flüstert wie ein schwindsüchtiger Sopran: »Ich habe gesucht, aber nicht gefunden«, der Ordensbruder am Kopfende, der ihm den letzten Wickel auf die Brust legt: »Du hast gesucht! So bist du gerettet!« Himmlische Harfentöne. Vorhang.

Doch was Saletti umtrieb, war nicht die Suche, ach was. Sein Problem war, dass es ihm nicht gelang, auszudrücken, was er bereits gefunden hatte: die{11}große Freude zu existieren. Es gab kein Sommergewitter, kein Warten an der Ampel, keine sternklare Nacht, keine Schlange beim Postamt, die nicht erneut in ihm dieses kleine Feuer entfachte. Doch da er es niemandem widmen konnte wie ein Lied im Radio, brannte es nur kurz in seinem Inneren und verlosch.

Hätte Saletti sich damit begnügen können, dass sich sein inneres Feuer in aller Einsamkeit verzehrte? Nein, das hätte er nicht. Es war Teil seines Charakters wie seiner Überzeugungen, dem Einzelnen zu misstrauen und der Gemeinschaft und ihren Institutionen größere Autorität und Vollständigkeit zuzugestehen (derUNO, Europa, der Republik, der Region, der Provinz, der Gemeinde, dem Bezirksbeirat, der Berggemeinschaft, dem Stadtteilrat, dem gemeindeeigenen Betrieb, den Dienstleistungsgenossenschaften, den Leitlinien des Ge