Erste Abteilung
I.
Ich bin der Meinung, dass man erst nach langer Beobachtung der Menschen imstande ist, Charaktere zu schaffen, gleichwie man erst durch anhaltendes Studium befähigt wird, eine Sprache zu sprechen.
Ich habe noch nicht das Alter erreicht, wo man erfindet, und begnüge mich daher mit dem Erzählen von Tatsachen.
Die folgende Geschichte ist durchaus wahr, ich habe nur die Namen der daran teilnehmenden Personen verändert, denn alle, mit Ausnahme der Heldin dieser Erzählung, leben noch.
Überdies gibt es zu Paris Personen, welche Zeugen der hier gesammelten Tatsachen waren und dieselben bestätigen könnten, wenn mein Zeugnis nicht genügte; ich allein aber wurde durch besondere Verhältnisse in den Stand gesetzt, diese Geschichte zu schreiben, denn ich allein wurde mit allen Einzelheiten so vertraut, um eine genaue, verständliche und vollständige Erzählung geben zu können.
Diese Einzelheiten kamen auf folgende Art zu meiner Kenntnis. Am 12. März 1843 las ich in der Rue Lafitte einen großen gelben Anschlagzettel, welcher die Anzeige eines Verkaufes von Möbeln und Luxusartikeln enthielt. Dieser Verkauf sollte »infolge eines Todesfalls« stattfinden. Die verstorbene Person wurde nicht genannt, aber die Versteigerung des Nachlasses sollte am 16. in der Rue d'Antin von zwölf bis fünf Uhr nachmittags stattfinden.
Am 13. und 14., hieß es auf dem Anschlagzettel, könne man die Wohnung besuchen, in der sich die Möbel, Gemälde und alle zu versteigernden Gegenstände befanden.
Ich war stets ein Liebhaber von merkwürdigen Stücken, ich nahm mir also vor, diese Gelegenheit zu benützen, um dieselben zu sehen und vielleicht etwas davon zu kaufen.
Am folgenden Tage begab ich mich in das bezeichnete Haus der Rue d'Antin. Am Haustor sah ich zwei noch größere Anschlagzettel, welche über die bevorstehende Versteigerung noch genauere Auskunft gaben, als jener, den ich in der Rue Lafitte gesehen hatte. Der Hausmeister sagte mir auf meine Anfrage, dass die zu verkaufenden Gegenstände im ersten Stock zu sehen wären und dass die Wohnung offen sei.
Es war noch früh, und dennoch waren schon Besucher und sogar Besucherinnen da, welche, obgleich in Samt gekleidet und in Kaschmirs gehüllt, den vor ihren Augen ausgebreiteten Luxus dennoch mit Bewunderung betrachteten.
In der Folge begriff ich diese Verwunderung und dieses Erstaunen, denn bei genauer Beobachtung dieses Luxus, der nicht immer von völlig tadellosem Geschmack war, erriet ich bald, wer diese Gemächer bewohnt haben müsse. Überdies erkannte ich in den drei oder vier Besucherinnen, deren elegante Coupés vor dem Haus hielten, galante Damen, die in der großen Welt ziemliches Aufsehen machten; ich wusste mir daher ihr Erstaunen und Lächeln zu erklären, so oft ihnen ein Gegenstand von großem Werte vorkam.
Kurz, es unterlag keinem Zweifel, dass ich in der Wohnung einer durch ihren Luxus bekannten femme entretenue (deutsch"ausgehaltene Frau") war. Wenn es etwas gibt, was galante Frauen zu sehen wünschen, so sind es die Wohnungen jener Rivalinnen, deren Equipagen täglich an ihren eigenen vorüberrollen, die, gleich ihnen, Logen in der Oper und im italienischen Theater haben, und