: Leo Tolstoi
: J. Schulze
: Auferstehung Vollständige Ausgabe
: Null Papier Verlag
: 9783954187386
: 1
: CHF 0.80
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 1024
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Ein Gutsherr, als Geschworener bei Gericht, erkennt in der angeklagten Prostituierten ein in der Vergangenheit von ihm verführtes Mädchen wieder. Er fühlt sich mitschuldig an ihrem Schicksal und bemüht sich um eine Revision des Urteils. Tolstoi schildert die ganze Unvollkommenheit des damaligen Rechtssystems in Russland. Die Geschichte baut auf einem Gerichtsfall auf, von dem ihn ein Freund erzählt hat. Wie immer flechtet Tolstoi zahlreiche Nebenfiguren und Nebenhandlungen in seine Geschichte ein, sodass ein buntes Gesellschaftsbild der damaligen Zeit entsteht. 'Auferstehung' ist nach 'Krieg und Frieden' und 'Anna Karenina' der dritte und letzte Roman von Leo Tolstoi. Tolstoi schrieb mehr als zehn Jahre an dem Roman. Er wurde 1899 veröffentlicht, zwanzig Jahre nach Anna Karenina. 1. Auflage (Überarbeitete Fassung) Umfang: 1024 Buchseiten bzw. 621 Normseiten Null Papier Verlag

Leo Nikolajewitsch Tolstoi wird am 9. September 1828 in Jasnaja Poljana in eine russische Adelsfamilie hineingeboren. Weil er früh seine Eltern verliert, wird er von einer Tante erzogen. Zwischen 1844 und 1847 besucht er die Universität von Kasan, doch das Studium der Orientalistik und Rechtswissenschaft bricht er ohne Examen ab. Auch den ursprünglichen Plan, in den diplomatischen Dienst einzutreten, verwirft er. Seine Arbeit wird zunehmend von ethischen und religiösen Themen bestimmt. Unter diesen Vorzeichen entstehen auch seine großen Romane Krieg und Frieden (1868/69) und Anna Karenina (1875-1877). 'Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.' Dieser erste Satz des Romans wird auch als 'Anna-Karenina-Prinzip' bezeichnet, und hat ebenso wie andere Teile des Inhalts mehr als 130 Jahre nach seinem Erscheinen nicht an Gültigkeit verloren. 'Anna Karenina' gilt mit Recht als ein Klassiker der Weltliteratur.

Zweites Kapitel


Die Geschichte der Maslow war höchst alltäglich.

Sie war das natürliche Kind einer Bäuerin, die ihrer Mutter in einem Schloss beim Viehhüten half. Die Bäuerin, die nicht verheiratet war, brachte jedes Jahr ein Kind zur Welt; und wie es in solchem Falle oft passiert, wurden die Kinder sofort nach der Geburt getauft; ihre Mutter nährte sie nicht, weil sie unerwünscht zur Welt gekommen war und ihr bei ihrer Arbeit nur lästig fielen; deshalb starben die armen Kleinen auch bald vor Hunger.

Fünf Kinder waren schon auf diese Weise dahingegangen. Alle waren gleich nach der Geburt getauft worden, die Mutter nährte sie nicht, und sie waren gestorben. Das sechste Kind, das von einem herumziehenden Zigeuner stammte, war ein Mädchen; deshalb wäre ihr aber doch dasselbe Schicksal, wie den fünf ältesten, beschieden gewesen, hätte es der Zufall nicht gefügt, dass eine der beiden alten Damen, denen das Schloss gehörte, einen Augenblick in den Kuhstall trat, um ihre Mägde wegen der Sahne, die nach der Kuh schmeckte, auszuschelten. Im Kuhstall lag die Wöchnerin an der Erde und neben ihr ein schönes, lebensfähiges, gesundes Kind. Die alte Dame schalt die Mägde, weil sie die Sahne so schlecht zubereitet und eine Wöchnerin in den Kuhstall gelassen hatten; als sie aber das Kind bemerkte, ward sie milder und erbot sich sogar, Patenstelle zu vertreten. Dann empfand sie Mitleid mit dem kleinen Mädchen, ließ der Mutter Milch und etwas Geld verabreichen, damit sie es nähren sollte, und so blieb das Kind am Leben. Daher nannten sie die beiden alten Damen auch »die Gerettete«.

Das Kind war drei Jahre alt, als seine Mutter krank wurde und starb, und da die alte Großmutter nichts mit ihm anzufangen wusste, so nahmen es die beiden alten Damen zu sich ins Schloss. Es war mit seinen großen schwarzen Augen ein außergewöhnlich lebhaftes und niedliches Kind; und die beiden Alten hatten Wohlgefallen an ihm. Die jüngere der beiden, die auch die nachsichtigere war, hieß Sophie Iwanowna; das war des Kindes Pate. Die ältere, Marie Iwanowna, hatte mehr Anlage zu Strenge. Sophie Iwanowna putzte die Kleine, brachte ihr das Lesen bei und dachte, eine Gouvernante aus ihr zu machen. Marie Iwanowna dagegen wollte eine Magd, eine hübsche Kammerzofe aus ihr machen; infolgedessen war sie anspruchsvoller, gab dem Kinde Befehle und schlug es manchmal, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs die Kleine unter der Einwirkung dieses Doppeleinflusses auf und wurde halb eine Kammerzofe, halb ein Fräulein. Selbst der Name, den man ihr gab, passte zu diesem Zwitterzustand; man nannte sie weder Katja, noch Katenka, sondern Katuscha. Sie nähte, brachte die Stuben in Ordnung, reinigte die Heiligenbilder mit Kreide, servierte den Kaffee, wusch die seine Wäsche und durfte ihren Gebieterinnen manchmal Gesellschaft leisten und vorlesen.

Man hatte wiederholt um sie angehalten, doch sie hatte stets Körbe ausgeteilt; verhätschelt, wie sie von dem ruhigen Schlossleben war, fühlte sie, es würde ihr schwer fallen, mit einem Arbeiter oder einem Diener zu leben.

So hatte sie bis zu ihrem siebzehnten Jahr gelebt. Sie trat in ihr neunzehntes, als ein Neffe der beiden Damen ins Schloss kam, der schon vorher einen ganzen Sommer bei seinen Tanten zu gebracht. In ihn hatte sich das junge Mädchen wahnsinnig verliebt. Er war Offizier und wollte sich ein paar Tage ausruhen, bevor er mit seinem Regiment in den Krieg gegen die Türken zog. Am dritten Tage, am Abend vor seinem Fortgange verführte er Katuscha, und zog am nächsten Morgen fort, nachdem er ihr einen Hundertrubelschein zugesteckt.

Seit diesem Augenblick wurde ihr alles lästig; sie dachte nur noch daran, wie sie der Schande, die sie erwartete, entgehen konnte; selbst ihre Gebieterinnen bediente sie nachlässig und widerwillig. Die beiden alten Damen bemerkten ihren Zustand bald. Maria Iwanowna schalt sie ein-, zweimal aus; doch schließlich sahen sie sich, wie sie selbst sagten, gezwungen, »sich von ihr zu trennen,« d.h., sie warfen sie hinaus. Als sie sie verließ, trat sie als Mädchen für alles bei einem Stanowoj1 in Dienst; doch hier konnte sie nur drei Monate bleiben, denn der Stanowoj, ein alter Mann von über 60 Jahren, begann ihr schon im zweiten