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London kümmerte es nicht, dass ich einen Termin hatte. Unbeirrt schoben sich die Menschenmassen durch Kensington. Die wenigen Bäume entlang der geschäftigen Straße waren auch nicht wirklich hilfreich, sie hatten ihr Grün in hinreißende Gold- und Brauntöne verwandelt, und anscheinend musste jeder Tourist unbedingt ein Foto davon machen. Ich drängte mich zwischen einer großen Gruppe hindurch, die sich für ein Erinnerungsfoto vor Topshop aufgebaut hatte, entschuldigte mich, durchs Bild gelaufen zu sein, und hastete dann in eine etwas ruhigere Nebenstraße. Gerade hatte ich auf der anderen Straßenseite die rot lackierte Tür mit dem NamenszugSmith Price, Esq. entdeckt, als der Alarm in meinem Handy mich daran erinnerte, dass ich in fünf Minuten ein Vorstellungsgespräch hatte. So schnell es meine unpraktischen Schuhe erlaubten, wechselte ich auf die andere Straßenseite und hielt vor der Tür kurz inne, um tief Luft zu holen.
Als ich mit der Hand über mein Haar strich, stellte ich zufrieden fest, dass es nach dem überstürzten Aufbruch aus meiner Wohnung noch in Form war. Gerade erst hatte ich mich von der wallenden Lockenpracht getrennt, die ich mir für die Hochzeit hatte wachsen lassen. Ein neues Leben, ein neuer Look.
Der schulterlange Bob mit dichtem Pony, für den ich mich entschieden hatte, war leichter zu stylen und anscheinend immun gegen das hektische Chaos auf Londons Straßen. Kurz überlegte ich, noch einmal zu checken, ob mein roter Lippenstift eine Auffrischung benötigte, verwarf die Idee jedoch wieder. Dafür war keine Zeit mehr, man erwartete mich. Ich strich meinen Bleistiftrock glatt, betete, dass ich mir keine Laufmasche gezogen hatte, und überprüfte den obersten Knopf meiner taillierten, elfenbeinfarbenen Bluse. Angemessen gekleidet war ich, jetzt musste ich den Job nur noch bekommen. Ein fester Arbeitsplatz war das Letzte, das mir noch fehlte, um mein Leben wieder in die Spur zu bringen. Und vielleicht konnte ich von nun an das Geld für die Gründung meiner eigenen Firma zur Seite legen.
Als ich das Vorzimmer betrat, eröffnete sich mir eine andere Welt. Von einer der schicksten und modernsten Straßen Londons war ich geradewegs in der Vergangenheit gelandet. Im Inneren dominierten kostbares Mahagoni und Leder. An den Wänden reihten sich hohe Bücherregale aneinander, und hinter einem Eichenschreibtisch saß eine überaus adrette Dame, die eine Bürotür bewachte. Sie schürzte die Lippen und musterte mich mit derart strengem Blick, dass ich verlegen zur Seite schaute. Vielleicht war ich doch nicht so passend gekleidet. Ich schätzte sie auf Mitte bis Ende vierzig, doch vielleicht ließ ihr strenges Gehabe sie älter wirken, als sie tatsächlich war. Mit einem zuckersüßen Lächeln trat ich auf sie zu.
»Ich habe einen Termin bei Mr. Price.«
Selbst als sie nickte, wich die Missbilligung nicht aus ihrem Gesicht. »Gerade noch rechtzeitig, Miss …?«
»Stuart«, ergänzte ich, obwohl sie meinen Namen vermutlich bereits kannte. Eine Frau hatte den Termin für mein Vorstellungsgespräch bestätigt, und ganz offensichtlich war sie die einzige weibliche Person hier. Nachdem ich mich jedoch schon seit sechs Monaten mit Vorstellungsgesprächen und befristeten Jobs herumschlug, wies ich sie lieber nicht darauf hin. Stattdessen schluckte ich meinen Stolz hinunter und wartete. Darin war ich ziemlich gut geworden, seit ich meinen Verlobten beim Fremdgehen erwischt hatte. Vielleicht sollte ich überlegen, das in meinen Bewerbungsunterlagen unter »Besondere Fähigkeiten« aufzuführen.
»Mr. Price erwartet Sie.« Endlich stand sie auf und bedeutete mir, ihr durch die Tür zu folgen, die sie bewachte.
Als ich sein Büro betrat, blieb ich wie vom Donner gerührt stehen. Ich hatte erst am Vortag nach Smith Price gegoogelt, aber es war mir nicht in den Sinn gekommen, Fotos von ihm anzuschauen. Bei der langen Liste seiner Bildungsabschlüsse und Karrierestationen sowie dem Kaliber der