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Bei der leichten Berührung ihres Armes zuckte Alexa erschrocken zusammen. Erst in diesem Moment bemerkte sie den Fremden, der bis zu ihr in die vorderste Reihe der Friedhofskapelle gekommen war. Er beugte sich zu ihr hinunter und kam ihr so unangenehm nahe, dass sie seinen Atem in Ihrem Nacken spürte.
„Entschuldigen Sie bitte, Frau Grün. Mein Name ist Seemann, ich bin der Anwalt Ihrer Großtante.“
Der Mann sprach leise und sehr schnell, als hätte er ein dringendes Anliegen. Vielleicht hetzte ihn die Zeit, in wenigen Minuten sollte die Beerdigung beginnen.
„Wäre es möglich, dass Sie heute noch bei mir in meiner Kanzlei vorbeikommen? Ich möchte gern ein paar Angelegenheiten mit Ihnen besprechen!“
Irritiert sah Alexa ihm ins Gesicht, als wäre er ein Geist, der in dieser kleinen barocken Kirche hauste. In Sekundenschnelle versuchte sie, sich ein Bild von ihm zu machen. Er war ein Mann im mittleren Alter, sie schätzte ihn auf 45 Jahre. Er hatte kurze, dunkle Haare, eine randlose Brille, trug einen teuren schwarzen Mantel, war gepflegt und wirkte freundlich, mit einem leichten Hauch von Arroganz. Etwas an ihm erinnerte sie an einen Filmstar. Aber wieso ein Anwalt? Jetzt, heute, hier auf dieser Beerdigung? Was war so dringend, dass ein Anwalt es heute mit ihr besprechen musste? Ihr Blick wurde misstrauisch, als hätte er versucht, ihr einen fadenscheinigen, billigen Teppich für teures Geld zu verkaufen. Der Mann schien ihren Argwohn zu spüren.
„Vielleicht könnten wir am Ende der Feierlichkeiten über einen Termin sprechen?“
Er machte eine Pause, um zu sehen, ob Alexa ihn auch verstanden hatte. Noch immer lag Dringlichkeit in seiner Stimme.
„Ich werde am Friedhofstor auf Sie warten!“ Väterlich tätschelte er ihren Arm und bevor Alexa antworten konnte, verschwand er in den letzten Reihen.
Vorsichtig drehte sie sich nach ihm um, als wäre er ihr heimlicher Geliebter, den sie nicht mit einer unaufmerksamen Geste verraten durfte, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
In den Reihen hinter ihr saßen vereinzelt ältere und ganz alte Leute, alle in tiefes Schwarz gekleidet. Zusammengekauert in den Bänken sahen sie aus wie Krähen in den Ästen eines Winterbaumes.
Tante Sophia war alt und kinderlos gestorben und Alexa hatte schon vermutet, dass nicht allzu viele Gäste zu ihrer Beerdigung kommen würden. Nicht einmal ihr Mann Robert konnte dabei sein. Bereits seit fünf Tagen war er auf einer Geschäftsreise in Hongkong und würde erst an diesem Abend zurückkommen. Und Simon, ihr sechzehnjähriger Sohn, hatte es in einer pubertären Anwandlung abgelehnt, ohne seinen Vater auf die Beerdigung zu gehen.
Nun saß sie als einzige Verwandte vorne in der ersten Reihe