2Das Gericht in den Psalmen
Wenn ein Gedanke einen Christen erzittern lässt, dann ist es der Gedanke an das „Gericht“ Gottes. Der „Tag“ des Gerichts ist „der Tag des Zorns, jener schreckliche Tag“, wie es in einem mittelalterlichen Choral heißt. Wir beten, Gott möge uns „in der Stunde des Todes und am Tag des Gerichts“5 erlösen. Die Schrecken dieses Tages sind seit Jahrhunderten ein Thema der christlichen Kunst und Literatur. Dieser Aspekt des Christentums geht zweifellos auf die Lehre unseres Herrn selbst zurück, insbesondere auf das erschreckende Gleichnis von den Schafen und den Böcken. Davon kann kein Gewissen unberührt bleiben, denn darin werden die „Böcke“ ausschließlich wegen ihrer Unterlassungssünden verdammt, wie um uns ganz klar zu machen, dass der schwerste Vorwurf, der jeden von uns treffen wird, nicht an den Dingen hängt, die jemand getan, sondern an denen, die er nie getan hat – und die ihm vielleicht noch nicht einmal eingefallen sind.
Darum hat es mich sehr überrascht, als mir zum ersten Mal auffiel, wie die Psalmisten über die Gerichte Gottes reden. Nämlich so: „Die Völker freuen sich und jauchzen, dass du die Menschen recht richtest“ (67,5). Oder: „Das Feld sei fröhlich …; denn er kommt, denn er kommt, zu richten das Erdreich“ (96,12-13). Offenbar ist das Gericht ein Anlass zu allgemeiner Freude. Die Leute bitten sogar darum: „Herr, mein Gott, verhilf mir zum Recht nach deiner Gerechtigkeit“ (35,24).
Der Grund dafür wird bald deutlich. Die jüdischen Psalmbeter sahen, wie wir es ja auch tun, in Gottes Gericht so etwas wie einen irdischen Gerichtshof. Nur mit dem Unterschied, dass ein Christ sich vorstellt, dass dort ein Strafprozess verhandelt wird, bei dem er selbst auf der Anklagebank sitzt. Ein Jude denkt eher an einen Zivilprozess, bei dem er der Kläger ist. Der eine hofft auf einen Freispruch oder besser eine Begnadigung; der andere erhofft sich einen spektakulären Triumph mit saftigem Schadensersatz. Darum bittet er Gott, „mir Recht zu schaffen und meine Sache zu führen“ (35,23).
Und obwohl unser Herr, wie ich gerade eben sagte, im Gleichnis von den Schafen und den Böcken das typisch christliche Bild gezeichnet hat, zeigt er sich an anderer Stelle ganz typisch jüdisch.
Achten Sie einmal darauf, was er mit einem „ungerechten Richter“ meint. Die meisten von uns würden darunter jemanden verstehen wie Richter Jeffreys6 oder die Handlanger, die während des Naziregimes auf den deutschen Gerichtsbänken saßen: jemanden, der Zeugen und Geschworene drangsaliert, um unschuldige Menschen zu verurteilen und dann drakonisch zu bestrafen. Auch hier denken wir wieder an einen Strafprozess. Wir hoffen, nie als Angeklagte vor einem solchen Richter erscheinen zu müssen. Der ungerechte Richter im Gleichnis dagegen ist eine ganz andere Gestalt. Es besteht keine Gefahr, gegen den eigenen Willen vor seinem Gericht zu erscheinen; im Gegenteil, die Schwierigkeit besteht darin, dort erscheinen zu dürfen. Es geht eindeutig um eine Zivilklage. Der armen Frau aus Lukas 18,1-5 wird vielleicht ihr kleines Grundstück – gerade groß genug für einen Schweinestall und ein Hühnergehege – von einem reicheren und mächtigeren Nachbarn weggenommen (heute wären es vielleicht Stadtentwickler oder irgendwelche anderen „Interessengruppen“). Und sie weiß, dass das Recht eigentlich vollkommen auf ihrer Seite ist. Könnte sie nur vor den Richterstuhl gelangen und nach geltenden Gesetzen Klage erheben, so würde sie auf jeden Fall ihr