Kapitel zwei
Aber du kannst doch nicht einfach wieder fahren! Bitte,niña, du bist doch gerade erst gekommen!«, beharrte Lydia. Hartnäckigkeit zählte zu jenen Eigenschaften der Haushälterin, die im Laufe der Jahre nicht schwächer geworden waren. Zwar mochte ihr Haar grau und ihre Taille fülliger geworden sein, aber sie strotzte vor Entschlossenheit, genau wie immer. »Der Richter braucht dich«, drängte sie und gab sich alle Mühe, mit Shelbys schnellem Schritt mitzuhalten, als diese durchs Haus auf die Eingangstür zustrebte.
»Er braucht niemanden.«
»Ich dachte, du bist zu Besuch hier.«
»Nein. Ich habe etwas zu erledigen.« Shelby schüttelte den Kopf; sie konnte nicht hierbleiben, nicht in diesem Haus, dieser riesigen Gruft, in der sich ihre Mutter das Leben genommen hatte, wo sie als einziges Kind mit dem unbeugsamen Richter als Vater aufgewachsen war, wo ständig irgendwelche gesichtslosen Menschen den Richter mit diesem oder jenem Anliegen aufgesucht hatten, nicht ahnend, dass Shelby sie vom dunklen Treppenabsatz aus beobachtet hatte, verborgen in einer Nische neben dem Wäscheschrank. Reglos hatte sie dort verharrt und durch die Blätter einer Birkenfeige hinab ins Foyer gespäht.
»Aber Shelby …« Lydias Stimme brach, und Shelby blieb an der Haustür stehen. Sie drehte sich um und sah die aufrichtige Traurigkeit in Lydias dunklen Augen. »Ich habe dich vermisst,niña. Es ist kalt im Haus, seit du fort bist.«
Das Eis um Shelbys Herz brach, als sie die Worte der Frau hörte, die sich ihrer nach Jasmine Coles Entschluss, den Suizid einer Scheidung vorzuziehen, angenommen hatte. Es war Lydia gewesen, die sie in die Arme schloss, wenn sie sich fürchtete, Lydias üppiger Busen, an dem sie ihren Kopf geborgen und dem beständigen Schlag ihres aufrichtigen Herzens gelauscht hatte. Lydia hatte sie ermutigt, das zu tun, was sie wollte, hatte sie getröstet, wenn ihr etwas nicht gelang. Lydia Vasquez hatte ihre aufgeschrammten Knie mit Jod verarztet und sie auf Spanisch unter Beschuss genommen, wenn sie Mist gebaut hatte; Lydia war es gewesen, die ein Auge zudrückte, wenn sie sich wieder einmal die Schlüssel zum Pontiac, Baujahr 1940, ihres Vaters für eine Spritztour »borgte«.
»Ich kann hier nicht bleiben«, sagte Shelby jetzt und hielt Lydias fleischige Unterarme umfasst.
»Nicht für immer, das weiß ich ja. Aber für ein paar Tage? Das würde ihn so trösten … ihm eine solche Freude bereiten.« Sie legte den Kopf schräg und wies zur Rückseite des Hauses Richtung Veranda. »Und mir genauso.Por favor – bitte! Nur ein paar Tage. Einesemana.«
»Eine ganze Woche?« Shelby schnappte nach Luft. »Unmöglich. Das kann ich nicht.«
»Was würde es schon schaden? Dein Vater wäre glücklich darüber, und ich … ich würde dafür sorgen, dass du ein bisschen zunimmst. Es hat sich vieles geändert, seit du fortgegangen bist.« Sie schürzte die Lippen, und um ihre Augen wurden kleine Fältchen sichtbar. »Er ist nicht das … das … Wie hast du ihn genannt? Dasmonstruo.«
Shelby konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich habe ihn ein Ungeheuer genannt, Lydia, nicht ein Monster. Nur um das klarzustellen.«
»Sí. Ein Ungeheuer.«
»Ich … ich werde darüber nachdenken.«
»Tu das, ich werde dafür beten. Zur heiligen Mutter Maria und –«
»Das genügt. Du musst nicht sämtliche Heiligen anflehen«, sagte Shelby und amüsierte sich über den Ausdruck nackten Entsetzens ob dieser blasphemischen Bemerkung auf Lydias rundem Gesicht. Lachend drückte sie der älteren Frau einen Kuss auf die Wange. »Lass mich das Ganze einfach auf meine Weise angehen, okay? Ich brauche weder dich noch die Heilige Jungfrau oder gar Gott höchstpersönlich, die mir sagen, was ich zu tun habe.«
Während Shelby zum Türknauf griff, bekreuzigte sich Lydia mit der Fertigkeit und dem Eifer der wahrhaft Gläubigen und murmelte auf Spanisch etwas über die störrischen jungen Frauen, die den für sie vorgesehenen Platz auf Gottes Erde nicht zu kennen schienen. Obwohl Shelby nur die Hälfte davon verstand, begriff sie das Wesentliche und schloss mit Nachdruck die Tür hinter sich.
Sie wollte nicht unter einem Dach mit ihrem Vater sein, konnte