Prolog
Boston, Massachusetts,1980
Frei!
Kate Summers zog die letzte Seite aus ihrer elektrischen Schreibmaschine und legte sie zu den anderen Papieren in den Postausgangskorb. Nun folgte der schwierige Teil: sich verabschieden und schnell verschwinden. Sie blickte zu der Riffelglastür von Tyrell Clarks Büro hinüber. Der Schein seiner Schreibtischlampe fiel durch die matte Scheibe.
Reiß dich zusammen, Kate. Du schaffst das.
Sie hatte sich bereit erklärt, länger zu arbeiten, in der Hoffnung, er würde nicht noch einmal ins Büro zurückkehren, doch so viel Glück hatte sie nicht gehabt. Vor vierzig Minuten hatte sie seine schweren Schritte auf der Treppe vernommen, und auch wenn er nicht an ihrem Schreibtisch stehen geblieben war, nicht einmal in ihre Richtung geblickt hatte, während er schnurstracks in sein Büro marschierte, so wusste sie doch, dass sie nicht gehen konnte, ohne zuvor ihren letzten Gehaltsscheck und ein Empfehlungsschreiben abgeholt zu haben.
Im restlichen Gebäude war es ruhig. Nichts außer dem Rumpeln der veralteten Heizungsanlage und dem gedämpften Rauschen des draußen vorüberfließenden Verkehrs störte die Stille in den ehedem so heiligen Hallen der Anwaltskanzlei Clark& Clark. Der ältere Clark, Tyrell senior, war vor zwei Jahren gestorben, und nun war es an seinem Sohn, die Tradition aufrechtzuerhalten und die Geschäfte weiterzuführen. Doch diese liefen nicht gut. Das Personal, das sich einst auf acht Büroräume verteilt hatte, belegte nun gerade mal zwei. Tyrell junior, ein brillanter Anwalt, liebte nicht nur seinen Beruf, sondern auch die Frauen und den Alkohol, außerdem hegte er eine fatale Leidenschaft für Pferdewetten. Deshalb saß ihm die Steuerbehörde im Nacken, und es gab noch ernstere Gegner – Kredithaie, Buchmacher und Schuldeneintreiber zum Beispiel.
In zwei Tagen wollte Kate Boston verlassen und so dem Alptraum, den sie durchlebt hatte, den Rücken kehren. Nie wieder würde sie einen Fuß in eines der Büros von Clark& Clark setzen müssen. Sie musste nur noch ihre bescheidenen Habseligkeiten nach Seattle verfrachten und dem Vermieter die Schlüssel zu ihrem kleinen Apartment zurückgeben – vier winzige Zimmer, die während der vergangenen drei Jahre ihr Zuhause gewesen waren. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, doch sie schluckte ihn hinunter.
Keine weiteren Erinnerungen. Keine weiteren Heucheleien. Ein neuer Anfang, das war es, was sie brauchte.
»Kate?«
Sie zog scharf die Luft ein.
Aus dem angrenzenden Büro ertönte Tyrell Clarks Stimme, so ruhig und gleichmäßig wie eine gut geölte Maschine. Ein Schauder jagte ihr den Rücken hinab. Sie hasste diese modulierte, wohlklingende Stimme, den leicht gönnerhaften Ton.
»Nie wieder«, flüsterte sie und ballte eine Hand zur Faust. Nicht eine Sekunde länger würde sie sich seine Annäherungsversuche – sanfte Berührungen, versteckte sexuelle Avancen – gefallen lassen. Sie nahm ihre Kaffeetasse, ihren Lieblingsstift und das Adressbuch und legte alles in ihre riesige Tasche.
»Bevor Sie aufbrechen, möchte ich gern noch etwas mit Ihnen besprechen.«
Die Lampe auf seinem Schreibtisch ging aus. Kates Magen schnürte sich zusammen in Anbetracht dessen, was nun auf sie zukam.
Und jetzt? Sie wappnete sich und warf einen Blick auf die Uhr. Fast sieben. Und sie war mit ihm allein im Gebäude. Nervös blickte sie aus dem Fenster im Empfangsbereich. Regentropfen rannen an der Glasscheibe hinab. Draußen war es dunkel, das einzige Licht kam von den Straßenlaternen und den vorüberfahrenden Autos. Es war dumm von ihr gewesen, noch dazubleiben, nachdem Rinda Feierabend gemacht hatte, doch sie brauchte das Überstundengeld und war naiverweise davon ausgegangen, dass Tyrell nach seinem Spätnachmittagstermin mit einem Klienten nicht noch einmal ins Büro zurückkehren würde. Den Scheck und das Referenzschreiben hätte er ihr auch mit der Post nachschicken können. Aber nein, sie hatte sich geirrt. Er war ins Büro gekommen.Dummes Mädchen.
Durch die Glasscheibe sah si