: Markus Gabriel
: Sinn und Existenz Eine realistische Ontologie
: Suhrkamp
: 9783518738726
: Sinnfeldtheorie
: 1
: CHF 32.00
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 507
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die neuzeitliche Ontologie nimmt seit Kant und Frege an, Existenz sei keine (gewöhnliche) Eigenschaft. Damit wird die alte Frage nach dem Sinn von Sein in einem veränderten Rahmen neu formuliert. Allerdings wird dabei vorausgesetzt, die Bedeutung von »Existenz« ließe sich ohne Rekurs auf Sinnkategorien verständlich machen, gleichzeitig wird Existenz an logische Funktionen wie den Existenzquantor oder den Mengenbegriff zurückgebunden. Gegen diese Annahmen vertritt Markus Gabriel in seinem originellen neuen Buch eine Ontologie der Sinnfelder: Zu existieren heißt, in einem Sinnfeld zu erscheinen. Überraschenderweise spricht laut Gabriel genau dies für einen neuen Realismus in der Ontologie.

<p>Markus Gabriel, geboren 1980, ist Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn, wo er das Internationale Zentrum für Philosophie NRW und das Center for Science and Thought leitet. Zurzeit ist er Eberhard Berent Goethe Chair an der New York University. Seine Werke sind in mehr als 15 Sprachen übersetzt.</p>

§ 1 Existenz ist keine eigentliche Eigenschaft


Beginnen wir mit einer illustrativen »Situationsbeschreibung«. Wir gehen in die Küche. Während wir eintreten, fällt uns ein merkwürdiges Ding auf, das sich mitten im Raum befindet. Es sieht wie eine gasartige Wolke aus, an der ein linker Arm herumhängt. Die Wolke ändert dauernd ihre Farbe, und alle Farben sehen aus wie Farben, die wir noch nie gesehen haben. Während wir diesen Eindruck verbalisieren und sagen, dass da eine bunte Wolke mit zusätzlicher linker Hand ist, hat sich die Wolke völlig überraschend in eine Giraffe verwandelt, die Autoreifen anstelle eines Kopfes trägt, und während wir verdutzt vor diesem Unding stehen, wurde die erste Hälfte der Giraffe unversehens durch die gute alte Wolke ersetzt, an der nun dieses Mal ein rechter Arm herumhängt. Wir beginnen zu bemerken, dass wir kaum imstande sind, unsere Gedanken über jene merkwürdige »Szene« zu Ende zu denken. Das ausgesprochen merkwürdige und sich rasch wandelnde »Ding« da vor uns macht es uns unmöglich, irgendeinen seiner Zustände aus dem Wandel hervorzuheben und es als dieses oder jenes Ding irgendwie befriedigend zu bestimmen.

Wenn sich nun unsere Gedanken über das »Unding« ähnlich zusammenhangslos und rasch änderten wie das »Unding« selbst, dann gäbe es keine nachvollziehbare Szene mehr. Befänden wir uns jemals in einer kognitiven Situation, in der kein Hinweis auf die Identität irgendeines Individuums – und sei es eines Gedankenvorkommnisses als Element unseres Bewusstseinsstroms – gewonnen werden könnte, könnten nur Außenstehende, für die es nicht nur absolute Prozesse gibt, urteilen, wir befänden uns inmitten absoluter Prozesse. Für uns fände nur bloßes Werden statt, kein Werden von irgendetwas, nur noch Werden, Werden ohne Werdendes. Der Versuch, sich einem solchen reinen Werden zu nähern, löst schnell den Eindruck aus, die Grenze zwischen Wachen und Träumen werde verwischt, da normalerweise Hinweise auf die Identität von Individuen vorliegen, die auch bestehen bleiben, wenn wir uns ihnen zuwenden.

Man kann dies auch anhand eines kleinen Prosafragments aus Ernst JüngersGläserne Bienen illustrieren. Richard, der Erzähler, berichtet dort von seiner ersten Begegnung mit gläsernen Bienen, sprich: mit Bienenrobotern. In seinem Gesichtsfeld schweben unbestimmbare graue Dinge herum, die sich wie ein »Rauchkopf« in seinem »Feld bewegte[n]«.[1]

Ich konnte nicht sagen, ob die Veränderungen, die ich auf der Oberfläche der Automaten zu erkennen glaubte, sich in der Wirklichkeit abspielten oder nicht. Ich sah Farbwechsel wie bei optischen Signalen, so ein Erblassen und dann ein jähes, blutrotes Aufleuchten. Dann wurden schwarze Auswüchse sichtbar, die sich wie Schneckenhörner ausstülpten. […] Jedenfalls war es ganz still im Garten und ohne Schatten, wie es in Träumen ist.[2]

Der Begriff desIndividuums wird üblicherweise in die Ontologie und Metaphysik eingeführt, um uns die Tatsache verständlich zu machen, dass wir Gegenstände begrifflich individuieren können und demnach nicht nur mit absoluten Prozessen konfrontiert sind, die sich unterhalb der Schwelle der begrifflic