BERGSTRASSE 94
Etwa drei Jahre vor meinem achten Geburtstag waren wir nach Flochberg gezogen. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten mir erklärt, warum wir ein neues Zuhause suchten. Als ich auf der Bergstraße zum ersten Mal vor dem Haus mit der Nummer 94 stand, war es mir schnell klar.
Inmitten der hell getünchten Häuser erkannte man unseres an seiner graubraunen Farblosigkeit. An einigen Stellen löste sich der Putz in Blasen von den Wänden. An anderen war er bereits großflächig abgeplatzt und entblößte das Mauerwerk darunter. Dass die Dachschindeln nicht dicht hielten, sah man nicht auf den ersten Blick. Aber wir bemerkten es, als der erste Regen den Flecken an den Zimmerdecken neue Kraft gab.
Wenn ich die zehn Stufen zur Haustür hinaufstieg und den schmalen dunklen Flur betrat, stach mir jedes Mal ein dumpfer Kellergeruch in die Nase. Gleich hinter dem Eingang führte links eine Tür ins Schlafzimmer. Hier stand das große Bett meiner Eltern und an der gegenüberliegenden Wand eine Couch, auf der ich schlief. Die Schimmelflecken an unseren Wänden waren so groß wie bei Onkel Heinz die gerahmten Bilder.
Ein Badezimmer hatten wir nicht. Die Toilette war von der Küche mit einer dünnen Wand abgetrennt, die Waschküche in einem kleinen Anbau untergebracht. Wenn Mutter unsere Sachen wusch, bereitete sie zuerst heißes Wasser in der Küche und ging dann damit in die Waschküche hinaus, um dort Hemden, Hosen und Pullover in einem Trog vom Dreck zu befreien. Wir selbst wuschen uns mit dem Wasser in einer Emailleschüssel, die mal im Flur stand und mal auf dem Wohnzimmertisch. Der kleine Holzofen im Wohnzimmer war die einzige Heizmöglichkeit im ganzen Haus. Wenn überhaupt, wurde es im Winter nur dort richtig warm.
Schlimmer war für mich aber, dass man dem Haus schon auf den ersten Blick ansah, wie verkommen es war. Wahrscheinlich hatte allein die Tatsache, dass wir eine billige Bleibe brauchten, es vor der Abrissbirne bewahrt. Ich setzte alles daran, dass keiner erfuhr, wo ich wohnte.
Als wir einmal bei einem Schulausflug an dem gepflegten Häuschen vorbeikamen, in dem mein Klassenkamerad und Freund Marc mit seinen Eltern wohnte, sagte der Lehrer: „Schaut mal, wie schön manche Schüler wohnen. Wäre es nicht spannend, auf unseren Ausflügen nach und nach die Häuser aller Schüler zu besuchen?“
Allein die Vorstellung jagte mir einen Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre ich sofort im Boden versunken. Mein Zuhause war mir einfach nur peinlich. Manchen Klassenkameraden erzählte ich, ich würde in dem kleinen weißen Haus unterhalb des Schlossbergs wohnen, wo ich meinen Onkel Heinz oft besuchte.
In der Grundschule war Marc mein bester Freund. Obwohl er viel bessere Schulnoten als ich hatte und seine Eltern im Vergleich zu meinen steinreich waren, verstanden wir uns bestens. Am liebsten spielten wir im Garten seiner Eltern Fußball. Marc war ein toller Freund. Weil ich kein Geld hatte, um mir in der großen Pause eine Milch zu kaufen, ließ er mir regelmäßig von seiner etwas übrig.
Marc lud mich auch zu seiner Geburtstagsfeier ein. Nachdem wir im großen und hellen Wohnzimmer eine Unmenge leckeren Streuselkuchen und Obstt