: Christoph Hein
: Glückskind mit Vater Roman
: Suhrkamp
: 9783518744536
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 527
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Ironisch-hu oristisch, anrührend, ohne Sentimentalität oder Sarkasmus erzählt Christoph Hein ein beispiellos-beispielhaftes Leben in mehr als sechzig Jahren deutscher Zustände.
Was verdankt ein von der Mutter »Glückskind« genannter Sohn dem Vater? Seit seiner Geburt im Jahr 1945 versucht Konstantin Boggosch, in der entstehenden DDR lebend, aus dem Schatten seines kriegsverbrecherischen toten Vaters zu treten: Er nimmt einen anderen Namen an, will in Marseille Fremdenlegionär werden, reist kurz nach dem Mauerbau wieder in die DDR ein, darf dort kein Abitur machen, bringt es gleichwohl, glückliche Umstände ausnutzend - Glückskind eben -, in den späten DDR-Jahren bis zum Rektor einer Oberschule - fast.
Am Ende erkennt er: Eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt. Durch solche Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart wird aus dem Glückskind ein Unheilskind. Gerade dadurch verkörpert Boggosch wie in einem Brennspiegel die unterschiedlichsten Gegebenheiten Deutschlands in den politischen, gesellschaftlichen und privaten Bereichen.



<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle<em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind<em>Spiegel</em& t;-Bestseller.</p>

Der sechste Tag des Friedens war kalt.

Eisig kalt, sagte Mutter Jahre später zu mir, und ich war froh, mit deiner bevorstehenden Geburt einen triftigen Grund zu haben, nicht aus dem Haus gehen zu müssen und stattdessen die Hebamme kommen zu lassen.

Seit drei Wochen war das Rathaus der Sitz der Sowjetischen Militärverwaltung für den Landkreis, ein Soldat stand mit einer Maschinenpistole bewaffnet auf dem oberen Treppenabsatz vor dem massiven Eingangsportal, und fast stündlich brachten Soldaten Bürger aus unserer Stadt, vor allem Männer jeden Alters, in das Rathaus. Die zurückkamen, sprachen wenig über das, was im Rathaus passiert war, worüber man sie ausgefragt oder verhört hatte und wie es ihnen gelungen war, mit heiler Haut davonzukommen und nicht irgendwohin zu verschwinden, wie einige andere. Man hatte Respekt und Angst vor der fremden Besatzungsmacht, aber weit mehr war man damit beschäftigt, den Alltag zu bewältigen, irgendwelche Lebensmittel zu besorgen oder einzutauschen, Holz für den Küchenofen zu sammeln, die Schäden am Haus und den Schuppen notdürftig auszubessern und die Blumenstauden im Garten hinterm Haus und in den Vorgärten herauszureißen, um dort Kartoffeln und Rüben anzubauen.

Auf dem Markt vor dem Rathaus und neben der Kirche standen öffentliche Pumpen, uralte, gusseiserne Ungetüme mit gewaltigen Pumpenschwengeln, die man mit aller Kraft mehrmals herunterdrücken musste, ehe endlich das Wasser floss. Eine ganze Woche lang hatte es in der ganzen Stadt kein Wasser gegeben, und jeder hatte sich Tag für Tag mit Eimern und Kannen an einer der beiden Pumpen aufzustellen, und obwohl überraschend schnell wieder Wasser durch die Leitungen floß, bildeten sich immer noch Schlangen an den Pumpen, denn bei einigen Häusern hatten Bomben und Blindgänger die Zuleitungen zerstört, und es konnte Wochen dauern, ehe diese repariert waren. Allerdings war nur die Pumpe hinter der Kirche dicht umlagert, und nur dort gab es gelegentlich Streit und wurde mit Blecheimern um die besseren Plätze gekämpft. Vor der Pumpe auf dem Rathausplatz standen wenige Leute an und Streit gab es dort nie. Die Militärverwaltung in den Amtsstuben, die vor dem Rathaus patrouillierenden, bewaffneten Soldaten mit mongolisch wirkenden, regungslosen Gesichtern ließen es angeraten sein, sich auf diesem Platz möglichst unauffällig zu verhalten oder ihn nach Möglichkeit zu meiden. Allein alte Frauen und Männer sah man dort, sehr alte Frauen und Männer, vermummt in derart abgetragene Kleidung, als hätten sie sich für den Gang auf den Rathausplatz extra kostümiert, und wahrscheinlich hatten sie sich besonders ärmlich angezogen, um keinesfalls aufzufallen. Die jungen Frauen blieben daheim und ließen sich nie auf der Straße sehen, am Tage nicht und in der Nacht schon gar nicht, zumal es eine Sperrstunde gab, die ein jeder akkurat beachtete. Die jüngeren Männer vermieden es, den Besatzungssoldaten unter die Augen zu kommen. Zu viele Gerüchte hatten die Runde gemacht, der und jener soll verschwunden sein, anderen habe man die Wohnung geplündert und einigen, zumal den jüngeren Frauen, sei noch viel Schlimmeres zugestoßen.

Mutter drückte sich sehr unklar aus, und wenn ich nachfragte, sagte sie nur, es war alles schlimm genug, daran erinnere sich keiner gern. Alle, meinte sie, waren damals verängstigt und fürchteten das Kommende. Und das änderte sich auch nicht, als Deutschland kapitulierte. Die Russen behandelten uns nach dem achten Mai wie in den zwei Wochen zuvor, wir waren Feinde für sie, und sie für uns. Keiner traute dem anderen über den Weg. Sie fürchteten Anschläge von verrückten Anhängern der Nazis, von den Werwölfen, einer Organisation von fanatischen Hitlerjungen, die der Bruder von Vaters bewundertem Freund, dem Gebhard Himmler, ein Jahr zuvor gegründet hatte und die noch nach der Kapitulation gegen die siegreichen Armeen der Alliierten kämpfte. Ich glaube, für die