WIE ICH IN EINE FREMDE WELT HINEINSPRINGE.
Also um nach jenem Baume zu kommen, mußte ich an der Herde vorüber. Furcht vor Rindern kannte ich nicht. Ich bin mit Kühen und Ochsen zusammen aufgewachsen, hatte aber noch niemals einen wildgewordenen Stier zu sehen bekommen und kannte dergleichen nur vom Hörensagen.
Eben wegen meiner früheren Bekanntschaft interessierte ich mich für Kühe. Außerdem hatte ich überhaupt stets für schöne Formen ein empfängliches Auge – und nicht nur für menschlichweibliche Formen.
Wirklich, dieser weiße Stier war ein Staatsexemplar. Ich blieb in der Nähe stehen, um mir den herrlichen Gliederbau näher zu betrachten.
Ach, wäre ich doch nicht stehen geblieben!
Die Tiere wendeten die Köpfe nach mir, schnaubten. Eine Kuh brüllte, eine zweite brüllte. Der Stier, immer starr nach mir blickend, peitschte die Lenden mit dem Schweif. Es war ein böser Blick, mit dem er mich betrachtete.
»Na na, mein liebes Tierchen,« sagte ich freundlich, »ich will dir doch keine Konkurrenz machen …«
Ja, hatte sich was! Es war ein englischer Ochse, der kein Deutsch verstand. Oder er hielt mich eben für einen Nebenbuhler und hörte in seiner Eifersucht überhaupt nicht.
Plötzlich nimmt das Vieh den Kopf zwischen die Vorderbeine, den Schwanz kerzengerade hinten herausgereckt und so in voller Karriere auf mich los!
Nun wußte ich, was es geschlagen hatte. Ich brauchte keine Erfahrung zu haben, um zu wissen, daß es nicht gut sei, mit solchen spitzen Korkziehern in Berührung zu kommen. Und meine einzige Bewaffnung bestand in dem silbernen Zahnstocher. So beschloß ich, die Defensive zu ergreifen, d. h., zu retirieren, mich lieber auf meine langen Beine zu verlassen.
Also schleunigst die Pfeife aus den Zähnen genommen, kehrt gemacht und – heidi! – was mich meine Beine trugen nach dem Baume gerannt, in dessen Schatten ich hatte schlummern und träumen wollen.
Daraus wurde nun natürlich nichts. Der Stier blieb mir auf den Fersen. Und leider war kein Ast so tief, daß ich ihn hätte ergreifen und mich hinaufschwingen können.
Auch die Hoffnung trog mich, daß der Stier in seiner blinden Wut sich den Kopf an dem Stamme, hinter den ich schnell gesprungen war, zerschmettern oder sich doch wenigstens mit seinen spitzen Hörnern festnageln könne. Ich wollte vorsichtig hinter dem Stamme vorlugen, hatte aber nicht viel Zeit dazu, der Stier war schon hinter mir.
Und das Karussellspiel begann. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht. Die Rundgänge zählte ich nicht, und meine Taschenuhr war bei Samuel Cohn. Einholen tat er mich ja nicht. Dazu machte er viel zu große Bogen, während ich mich immer dicht am Stamme hielt, also einen kürzeren Weg beschrieb, und auf den genialen Gedanken, einmal schnell kehrt zu machen und mich in seine Korkzieher laufen zu lassen, kam das tolle Vieh nicht. Uebrigens war ich deshalb schon auf meiner Hut, blickte ab und zu immer einmal hinter mich, achtete auch auf das Pusten und Schnaufen.
Aber so konnte das nicht weitergehen. Um zwölf mußte ich zum Mittagessen zu Hause sein. Nachservieren gab’s bei der Fatje Mine nicht. Doch was tun? Weit und breit kein Mensch zu sehen, der mir auch wenig hätte helfen können, es müßte denn gerade ein amerikanischer Buffalo-Jäger gewesen sein.
Ich sah meine einzige Rettung in jener Mauer, welche sich etwa noch 150 Schritte entfernt befand.
Wenn ich um den Baum herumgaloppierte, daß sie mir gerade vor die Augen kam, musterte ich sie recht genau.
Sie war offenbar viel zu hoch, als daß ich ihren Rand im Sprunge mit den Händen erreichen konnte. Außerdem hatte ich eine höllische Angst vor Glasscherben, mit denen ich einmal als Junge eine böse Erfahrung gemacht. Aber dort, etwas seitwärts, wurde sie durch ein Stückchen Bretterzaun unterbrochen, der bedeutend niedriger war