Mit seinem Hauptwerk hat Scholem Alejchem seinen Ruf als einer der größten Humoristen der Weltliteratur begründet und dem untergegangenen Milieu des Schtetls ein Denkmal gesetzt. Keine nostalgische Verklärung, keine geschönte Idylle, sondern ein berührend tragikomischer Blick auf die Katastrophen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts drohend am Horizont aufziehen: Pogrome, Vertreibungen, Revolutionen. Dies macht den jiddischen Schicksalsroman zu einem der wichtigsten Bücher der Weltliteratur.Scholem Alejchem (1859-1916), eigentlich Schalom Rabinowitsch, aus der Ukraine stammend, wanderte 1905 in die Schweiz und dann nach Amerika aus. Bereits mit einundzwanzig Jahren Rabbiner, begründete er mit lebensnahen Milieu-Romanen seinen Ruf als größter Humorist der jiddischen Literatur. Die von ihm geschaffenen Charaktere aus allen Schichten des jüdischen Volkes Osteuropas haben geradezu metaphorische Bedeutung erlangt.
DAS GROSSE LOS
Eine wunderbare Geschichte, wie Tewje, der Milchmann, arm an Geld, aber reich an Kindern, plötzlich und mit einem Schlag durch ein äußerst sonderbares Ereignis, das es wert ist, in einem Buch beschrieben zu werden, sein Glück machte. Erzählt von Tewje selbst und wortwörtlich hier wiedergegeben
«Der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutze …»
Psalm 113, 7
Wenn einem das große Los beschert ist, hört Ihr, Herr Scholem Alejchem, kommt es geradewegs ins Haus, denn wie sagt Ihr:Lamnazejach al hagithiß – wenn es geht, dann läuft es auch; es ist dabei keinerlei Verstand und Wahlmöglichkeit vorhanden. Und wenn – Gott behüte – das Gegenteil der Fall ist, könnt Ihr vor lauter Reden zerplatzen, und es wird Euch so viel helfen wie der Schnee vom vergangenen Jahr, denn wie sagt Ihr:Es gibt keine Weisheit, keinen Verstand, keinen Rat gegen ein schlechtes Pferd. Ein Mensch schuftet, quält sich, bis er sich am liebsten hinlegen und – die Feinde Zions sollen’s – sterben würde. Auf einmal, man weiß nicht weswegen und woher, pferdet es von allen Seiten daher, wie es in der Bibel geschrieben steht:So wird eine Hilfe und Errettung den Juden erstehen. Das muss ich Euch ja nicht mehr extra auslegen; die Stelle lässt sich so deuten, dass ein Jude –solange die Seele noch in mir ist (solange noch eine Ader pulst) – das Gottvertrauen nicht verlieren darf. Ich hab’ das tatsächlich bei mir selbst gesehen, wie der Oberste mich geleitet hat bei meinem jetzigen Broterwerb: Denn wie käme ich sonst gerade dazu, mit einem Male Käse und Butter zu verkaufen, wo doch meiner Großmutter Großmutter niemals mit Milchwaren gehandelt hat? Es ist’s wahrhaftig wert, dass Ihr Euch die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende anhorcht. Ich werd’ mich für eine Weile hier neben Euch hin ins Gras setzen, soll das Pferd derweil ein bisschen was kauen, wie Ihr sagen würdet:Der Odem alles Lebenden lobe deinen Namen, Ewiger – auch ein Pferd ist ein Geschöpf Gottes.
Kurz und gut, es war um die Zeit des Wochenfests5, das heißt, damit ich Euch keine Lügen erzähle, eine Woche oder zwei vor dem Wochenfest; und vielleicht auch – hm? – ein paar Wochen nach dem Wochenfest. Vergesst nicht, es war bereits – gemach, gemach, ich will’s Euch ja ganz genau sagen – vor Jahr und Tag, das heißt genau neun Jahre her oder zehn und vielleicht eine Idee mehr. Damals war ich gar nicht der, so wie Ihr mich jetzt hier seht, das heißt, zwar wirklich derselbe Tewje und doch wieder nicht dieser, wie sagt Ihr so schön: dieselbe Jente6, nur mit einem anderen Schleier. Was bedeutet das? Ich war, nicht auf Euch gedacht, ein bettelarmer Habenichts, obwohl ich natürlich, wenn wir schon bei dem Thema sind, auch jetzt noch sehr weit von einem reichen Mann entfernt bin. Was mir fehlt, ein Brodski7 zu sein, das könnten wir beide uns in diesem Sommer bis nach dem Wochenfest zu verdienen wünschen; aber im Vergleich zu einst bin ich heute, heißt das, ein reicher Mann – mit eigenem Pferd und Wagen, mit – fern bleibe ihnen der böse B