: Gabriele Lingelbach, Anne Waldschmidt
: Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte
: Campus Verlag
: 9783593433967
: Disability History
: 1
: CHF 38.10
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 290
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Disability History Herausgegeben von Gabriele Lingelbach, Elsbeth Bösl und Maren Möhring Welche Ereignisse der deutschen Geschichte nach 1945 können als Momente des Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen »Behinderung« betrachtet werden? War das Kriegsende 1945 tatsächlich eine Zäsur? Oder sollten andere Geschehnisse, etwa der »Contergan-Skandal« in den 1960er Jahren, als Wendepunkte angesehen werden? Im interdisziplinären Dialog fragen die Autorinnen und Autoren danach, welche Phasen der Kontinuitäten und der Brüche sich für die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland identifizieren lassen. So entsteht erstmals ein Überblick über die Geschichte von Menschen mit Behinderungen in beiden deutschen Staaten seit 1945.

Gabriele Lingelbach ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Kiel. Anne Waldschmidt ist Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Universität Köln.
Einleitung: Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche in der deutschen Disability History nach 1945
Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt
Disability History, die Erforschung der Geschichte von ?Behinderung?, erfährt in der Bundesrepublik seit einigen Jahren eine immer größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Wenn auch später als im angel-sächsischen Sprachraum beginnt sie, sich allmählich auch in Deutschland als Forschungsfeld im Rahmen der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Geprägt durch einen intensiven Zusammenhang mit den hierzulande schon seit Längerem existierenden, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Disability Studies wie auch durch einen transnationalen Austausch mit Historikerinnen und Historikern anderer Länder, sind in den letzten Jahren in Deutschland themenbezogene Überblickspublikationen, Netzwerke und Institutionen entstanden. Erstmalig trat hierzulande die Disability History auf dem 47. Deutschen Historikertag 2008 in Dresden in Erscheinung. Die Ergebnisse der von Elsbeth Bösl, Anne Klein und Anne Waldschmidt organisierten Sektion 'Dis/ability in History - Behinderung in der Geschichte: Soziale Ungleichheit revisited' wurden 2010 in einem Grundlagen vermittelnden ersten Sammelband veröffentlicht. Belebt wird das Feld außerdem durch Forschungszusammenhänge wie das seit 2007 an der Universität Bremen angesiedelte, mediävistisch ausgerichtete Verbundprojekt ?Homo debilis? oder auch durch die eher zeitgeschichtlich orien-tierte Reihe ?Disability History? des Campus Verlags, für welche der vorliegende Sammelband den Auftakt darstellt.
Disability History - eine Definition
Was aber ist Disability History? Zunächst einmal begreifen Disability Historians ?Behinderung? nicht als natürliche Gegebenheit, sondernals eine naturalisierte Differenzkategorie, analog etwa zu Geschlecht/Gender oder Ethnizität/Race. In diesem Sinne handelt es sich bei Beeinträchtigungen wie Down-Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Querschnittslähmung, Blindheit etc. nicht um einfache ?Tatsachen?, sondern um soziale Konstruktionen: Welche Behinderungskategorien existieren, wie Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse verlaufen und welche Folgen sie für den Einzelnen und die Gesellschaft haben, hängt von soziokulturellen Bedingungen und somit auch vom historischen Kontext ab. Disability History stellt (Nicht-)Behinderung daher nicht als eine universelle, feststehende kulturelle Kategorie und uniforme soziale Praxis dar; vielmehr wird betont, dass über die Jahrhunderte hinweg ebenso wie zwischen den Kulturen eine große Vielfalt an Sicht- und Reaktionsweisen in Bezug auf Behinderung existierte. Mithin fragt die historische Teildisziplin, wie und unter welchen Bedingungen ?die Behinderten? als vermeintlich homogene soziale Gruppe konstruiert wurden, wer aus welchen Gründen als ?behindert? galt, und wie frühere Gesellschaften mit Diversität, Anderssein und Abweichung umgingen, wie also die Wechselverhältnisse von Inklusion und Exklusion jeweils gestaltet waren.
Mit dieser Perspektivierung distanziert sich die neuere Forschung deutlich von der traditionellen, dem Rehabilitationsansatz verhafteten Geschichte der Behinderung, die in essentialistischer Sicht davon ausgeht, dass es die Dichotomie ?behindert/nicht behindert? tatsächlich gibt; die Befunde und Diagnosen voraussetzt, anstatt sie zu hinterfragen; die lediglich davon zu berichten weiß, wie Gesellschaften mit behinderten und chronisch kranken Menschen umgehen, anstatt Gesellschaft und Kultur als konstitutiv für die Behinderungskategorie zu verstehen. Entsprechende geschichtswissenschaftliche Studien haben sich lange Zeit von dem sogenannten individuellen oder auch medizinischen Modell leiten lassen, welches die Ursachen für Behinderung im Individuum verortet und letztere als Defizit bzw. zu verhütende oder zu behebende, jedenfalls zu lindernde Normabweichung definiert. Erst seit den 1970er Jahren hat sich, ausgehend von den zuerst in den angelsächsischen Ländern entstandenen Disability Studies und vor allem mit dem Namen des britischen Soziologen Michael Oliver verbunden, allmählich das sogenannte soziale Modell etabliert, welches Behinderung als Benachteiligung ansieht und die Verantwortlichkeit dafür nicht dem Individuum, sondern der Gesellschaft zuschreibt. Dieses Modell führte außerdem die Unterscheidung zwischen einerseits Impairment, der Beeinträchtigung in Form körperlicher, geistiger oder psychischer ?Besonderheit?, und andererseits Disability als Kategorie gesellschaftlicher Diskriminierung ein. Seit den 1990er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit der Disability Historians dann zunehmend auf kulturelle Phänomene, analysierten sie doch immer öfter gesellschaftliche Stereotype, Kategorisierungen, Repräsentationen mit Bezug auf Behinderung. Intensiver wurde nun die diskursive Ebene untersucht, über die ?Behinderung? erst als solche konstruiert wird. Im Zentrum stand das Vorhaben, den Behinderungsbegriff zu problematisieren, zu dekonstruieren und kritisch zu reflektieren. Diese Arbeiten lassen sich als Ausdruck eines kulturellen Modells verstehen.
Nicht nur in Bezug auf die Untersuchungsebenen und die Konzeptionierung des eigenen Untersuchungsgegenstands arbeiten Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen, mit unterschiedlichen Ansätzen. Vielmehr gibt es auch verschiedene Ansichten darüber, welche Rolle die Disability History im Kontext der Geschichtswissenschaft spielen soll.
Auf der einen Seite wird mit der Disability History die Hoffnung verbunden, eine neue historiographische Perspektive zu begründen: Versteht man Behinderung als eine Leitdifferenz moderner Gesellschaften, bietet sich die Chance, in diesem Rahmen nicht nur Geschichte(n) der Behinderung, sondern auch die allgemeine Geschichte neu zu schreiben. Indem im Sinne des kulturellen Modells Behinderung nicht als universales Phänomen begriffen wird, sondern als zeitgebundene Kategorie, deren Konstruktion ein Charakteristikum (post-)moderner Gesellschaften darstellt, wird der Anspruch erhoben, einen Beitrag zur Erforschung der Moderne, ihrer Schattenseiten und noch unausgeleuchteten Räume zu leisten. Behinderung wird zum exemplarischen Gegenstand, mit dem sich das allgemeine Phänomen zeigen lässt, dass Differenz erst dann hergestellt werden kann, wenn es soziokulturelle Kontexte gibt, das heißt entsprechende Rahmungen, Struk-turen und Bedingungen (zum Beispiel den Wohlfahrtsstaat) sowie auch konkrete Räume und Institutionen (wie etwa die Klinik oder die Anstalt). Die Erforschung des Nicht-Normalen kann aus dieser Sicht darüber Aufschluss geben, wie es um das Normale bestellt ist. Mit Hilfe der Fokussierung auf Behinderung, einem Phänomen, welches als das Nicht-Normale par excellence gilt, können Selbstverständlichkeiten, ?Normalitäten? sichtbar gemacht und kritisch reflektiert werden: Das fraglos Geltende wird selbst fragwürdig, Eindeutigkeiten offenbaren ihre Ambivalenz. Der so verstandenen Disability History dient also Behinderung als analytische Kategorie, um grundlegende gesellschaftliche Ordnungsprinzipien zu erkunden.
Auf der anderen Seite gibt es die Auffassung, dass es sich bei der Disability History lediglich um eine Segmentgeschichte, analog etwa zur Migrations- oder Wissenschaftsgeschichte handelt, die auf ihr The-menfeld mit einem offen gehaltenen Set an Fragestellungen, begrifflichen Festlegungen, Theorien und Modellen zugreift, ohne den Anspruch zu erheben, der allgemeinen Geschichte mehr als nur einen weiteren inhaltlichen Aspekt und eine zusätzliche Perspektivierung hinzufügen zu können. Die Disability History in diesem Sinne konzentriert sich auf eine weitere Differenzkategorie neben den innerhalb der Geschichtswissenschaft bereits etablierten Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Generationszugehörigkeit oder Konfession. Potenzial für eine grundlegende Revision der Allgemeinen Geschichte beinhaltet die so verstandene Disability History nicht, auch weil weite Bereiche der Vergangenheit ohne jeglichen Zugriff auf die Kategorie ?Behinderung? einer historischen Analyse unterzogen werden können.
Ebenso umstritten ist die Zuordnung der Disability History zu größeren (inter-)disziplinären Zusammenhängen. An dieser Stelle wird beispielsweise hervorgehoben, dass die Disability History als Teilgebiet der Disability Studies entstanden ist und sich somit auch deren Forschungsprogrammatik verpflichtet fühlen sollte. Dagegen steht die Auffassung, dass die Disability History der Geschichtswissenschaft zuzuordnen ist, da sie mit dieser nicht nur die methodischen Grundlagen und die Präferenz für bestimmte narrative Strukturierungsmuster teilt, sondern sich auch vorrangig von Fragestellungen, Thesen, Theoremen und Modellen inspirieren lässt, die von anderen Historikerinnen und Historikern entwickelt wurden. Aus den Disability Studies bedient sie sich - wie auch aus anderen Fachgebieten, beispielsweise der Soziologie oder der Ethnologie - allenfalls zu heuristischen Zwecken und da-mit selektiv. Eine Verpflichtung zur Orientierung an der Forschungsprogrammatik der Disability Studies ergibt sich aus dieser Perspektive nicht.
Dass in einigen Punkten durchaus unterschiedliche Meinungen existieren, verhindert die Zusammenarbeit aber keinesfalls, im Gegenteil: Dieser Sammelband zeigt, wie fruchtbar die interdisziplinäre Diskussion sein kann. Im Folgenden stellen sowohl etablierte Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Fächern als auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ihre Arbeiten vor, wobei letztere ihre Forschungsarbeiten teilweise zum ersten Mal einem breiteren Publikum präsentieren. Der Sammelband ist das Ergebnis einer gemeinsamen Tagung, die im Rahmen des Kieler DFG-Projekts 'Menschen mit Behinderung in Deutschland nach 1945', großzügig unterstützt durch die Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung, im März 2014 an der Universität zu Köln erstmals Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehrerer Disziplinen zusammenführte, um über die Zeitgeschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu diskutieren. Dabei stand die Frage nach den Zäsuren und den Kon-tinuitäten im Hinblick auf deren Lebenslagen im Zentrum.
Behinderung als Kontinuität, Zäsur oder Bruch
Tatsächlich ist die Fragestellung nach Zäsuren für Menschen mit Behinderungen spezifisch gelagert, können bei dieser Gruppe doch die überindividuelle Geschichte und die Lebensgeschichte relativ deutlich entkoppelt sein. Historische Umbrüche wie der Beginn oder das Ende eines Krieges, ein Herrschafts- oder Systemwechsel, die Verabschiedung von Gesetzestexten oder eine plötzlich entstehende Wirtschaftskrise können generell von einem Individuum als weniger einschneidend empfunden werden als dessen Erlebnisse anlässlich von Einschulung, erstem Arbeitsplatz, von Heirat und der Geburt eigener Kinder, der Pensionierung oder dem Tod von Familienangehörigen bzw. Bekannten. Wird ein individueller Lebenslauf zusätzlich von Behinderung geprägt, verstärkt sich wahrscheinlich die genannte Entkopplung und es bietet sich dann geradezu an, nach Kontinuitäten, Zäsuren und Brüchen, den Verbindungen zwischen individueller Biografie, der Beeinträchtigung und deren Auswirkungen auf die weitere Lebensgeschichte zu fragen. Zugleich erweisen sich die Lebensläufe von Menschen mit Behinderungen als besonders vulnerabel, was die Auswirkungen etwa von ökonomischen Krisen oder auch staatlichen Politiken betrifft. So hat beispielsweise die von staatlichen Instanzen vorgenommene Klassifikation als ?behindert? bis in die 1980er Jahre hinein häufig zu hochgradig institutionalisierten, von Heimaufenthalten und Sondereinrichtungen geprägten Biografien geführt, aus denen Ausstiege nur schwer zu realisieren waren. In den letzten Jahren haben wiederum der neue Trend zu inklusiven Unterstützungsstrukturen und der menschenrechtliche Ansatz in der Behindertenpolitik, als Folge der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, auch die Lebenslagen behinderter Menschen verändert. Insofern ist der Zusammenhang von gesellschaftlichen Diskursen, (sozial-)staatlicher Unterstützung, individuellem Lebenslauf und Behinderung nicht nur für die soziologische Biografieforschung, sondern auch für die geschichtswissenschaftliche Analyse von Bedeutung.
Auf der individuellen Ebene erweist sich insbesondere für Menschen, die nicht von Geburt an, sondern durch Unfall oder Krankheit mit impairment konfrontiert sind, dieser Lebensmoment oft als zentraler Bruch in der eigenen Biografie. Vor allem bei erworbener Beeinträchtigung, zum Beispiel bei einer Querschnittslähmung nach einem Unfall, ist der ?Bruch im Leben?, sowohl wortwörtlich als auch im figu-rativen Sinne, eine allgemein gebräuchliche Metapher. Andere Beeinträchtigungen, insbesondere chronische Erkrankungen, wie etwa multiple Sklerose, Muskeldystrophie oder degenerative Augenerkrankungen, haben einen allmählichen Verlauf, wobei dieser Prozess aber ebenfalls von biographischen Zäsuren markiert sein kann, von Schnittstellen oder Schlüsselerlebnissen, wie etwa den Gebrauch des Rollstuhls ab einem bestimmten Zeitpunkt, während man kurze Zeit zuvor noch hatte gehen können. Wiederum andere Beeinträchtigungen, die wie beispielsweise das Down Syndrom oder eine Hirnschädigung angeboren oder in früher Kindheit erworben wurden, werden eher als Kontinuität erlebt, als vorhandenes personenbezogenes Merkmal, das schlichtweg zu akzeptieren und in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren ist.
Auf dieser Folie lassen sich die drei Leitbegriffe differenzieren, die für diesen Sammelband von zentraler Bedeutung sind. Kontinuität meint demnach auch in der Geschichtswissenschaft die Vorstellung von (positiv bewerteter) Beständigkeit oder (negativ beurteilter) Stagnation; sie impliziert langsame, stetige Entwicklungen, evolutionäre Transformationsprozesse, die mehr oder weniger vorhersehbar oder wie erwartet, kaum merklich und nur allmählich ablaufen. Vermutlich nur in der longue durée, im Rückblick über einen längeren Zeitraum, lassen sich Wandlungsprozesse erkennen. Zäsuren dagegen bezeichnen, wie oben schon erwähnt, Schnittstellen, prägnante Markierungen, die Entwicklungen eindeutig beeinflussen, beschleunigen oder bremsen, in andere Richtungen lenken können. Martin Sabrow hat darauf hingewiesen, dass bestimmte Zäsuren von den Handelnden erkannt und als solche bewusst erlebt werden können. Oftmals aber bleiben sie unbemerkt, und erst in der Retrospektive werden bestimmte Ereignisse als Zäsuren, sogenannte turning points, zum Beispiel von der Geschichtswissenschaft, entsprechend gedeutet. Brüche wiederum sind im Grunde ein besonderer Typus von Zäsur: Sie vollziehen sich unerwartet, abrupt und geben somit sich vollziehenden Prozessen oder auch einem Wandel bzw. einer Entwicklung eine deutliche Kehrtwendung. Als events stellen sie Diskontinuität und Unordnung her. Sie markieren Unter-Brechungen, Um-Brüche, Ab-Brüche - und repräsentieren so die Ereignishaftigkeit der menschlichen Existenz wie auch das wortwörtlich Revolutionäre in der Geschichte.
Zäsurdebatten und Periodisierungsvorschläge in der zeitgeschichtlichen Forschung
Der Umstand, dass Behinderung individuell als Kontinuität, Zäsur oder Bruch erfahren werden kann, und die Beobachtung, dass gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse Auswirkungen auf die Lebenslagen behin-derter Menschen haben, motivieren dazu, Themenfelder und Fragestellungen der Disability History an die in der Zeitgeschichtsforschung geführten Debatten um die Kontinuitäten und Zäsuren in der deutschen Nachkriegsgeschichte anzubinden. Entsprechend wurden für diesen Sammelband die Autorinnen und Autoren darum gebeten, ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand danach zu befragen, inwieweit dessen Entwicklung eher von Kontinuitäten oder Zäsuren geprägt war und für welche Zeitpunkte gegebenenfalls Zäsuren festgestellt werden können. Zusätzlich sollte reflektiert werden, inwieweit in der Forschung etablierte Periodisierungsvors hläge für den eigenen Untersuchungsgegenstand Plausibilität beanspruchen kön-nen.
Dieser Ansatz wurde aufgrund der Überlegung gewählt, dass aus zeithistorischer Sicht die Suche nach Zäsuren und Phasen zahlreiche methodische, heuristische und narratologische Vorteile bietet: Indem man Zäsuren definiert und Phasen identifiziert, werden Sinneinheiten konstruiert und strukturierende Ordnung in einen sonst chaotisch anmutenden Zeitfluss gebracht. Die Identifikation von Phasen dient somit einer stets notwendigen Komplexitätsreduktion, die auch darstellerische Vorzüge aufweist. Zudem erfordert die Suche nach Zäsuren ein bewusst angelegtes Relevanzkriterium: Um Umbrüche identifizieren zu können, muss man den behaupteten qualitativen und/oder quantitativen Umschlag zwischen einem Davor und einem Danach begründen und erklären können. Auch sollte man sich dabei bewusst sein, dass die herausgearbeiteten Zäsuren nicht Eigenschaften der Geschichte an sich sind, sondern standortabhängige Konstrukte. In anderen Worten, das Setzen von Zäsuren ist notwendigerweise eine Deutungsleistung des Historikers oder der Historikerin. Allgemein betrachtet hat die Suche nach Kontinuitäten oder Diskontinuitäten mithin das Potenzial, eine methodisch und theoretisch reflektierte Form der Geschichtsbetrachtung und -schreibung voranzubringen. Darüber hinaus wohnt Periodisierungsvorschlägen und Zäsurbehauptungen ein heuristischer Mehrwert inne, können doch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung entwickelte Phasenmodelle als Folien dienen, die verifiziert, falsifiziert oder auch modifiziert werden können. Viele der fruchtbarsten und gewinnbringendsten Debatten in der deutschen Geschichtswissenschaft haben an mehr oder weniger etablierte Periodisierungsvorschläge angedockt. Wer die These von den langen 1960er Jahren als Liberalisierungsjahrzehnt oder die Behauptung eines Bruchs in den 1970er Jahren nach dem Boom differenziert betrachten will, der sucht nach dem Gegenläufigen, dem Vernachlässigten und kann so möglicherweise neue Themen entdecken, neue Ansätze und Interpretationen generieren. Die von Sabrow formulierte Mahnung, dass Periodisierungsvorschläge stets in ihrer 'räumliche[n] Geltungsbreite und strukturelle[n] Geltungstiefe' überprüft und eingeschränkt werden müssen, kann für die spezialisierte Forschung auf diese Weise gewinnbringend beachtet werden. Dies gilt auch für die Geschichte von Menschen mit Behinderungen, da deren Untersuchung die begrenzte Plausibilität des einen oder anderen Perio-disierungsvorschlags verdeutlichen kann, ist doch offensichtlich der Wandel der Lebenslagen behinderter Menschen durch spezifische Temporalstrukturen, Eigenlogiken und Pfadabhängigkeiten gekennzeichnet und somit anders gelagert als der anderer sozialer Gruppierungen.
Zwar hat Lutz Raphael kürzlich nochmals davor gewarnt, die Zeitgeschichte als 'bunten Strauß lose miteinander verflochtener Bindestrich-Geschichten (Wirtschafts-, Kunst-, Sport- und andere Geschichte mehr) mit ihren eigenen Anfängen, Zäsuren und Krisenjahren' zu konzeptionieren, da dies letztlich 'unsere Vorstellung von der einen Zeit, der einen Geschichte' zerstöre. Jedoch sollte die Kontingenz historischer Entwicklungen und die 'Periodenverschiedenheit der Kulturgebiete' nicht aus diesem Grund negiert und der Verlust einer angeblich vorhandenen einen Geschichte als nicht zu tragisch empfunden werden, zumal Raphaels Schlussfolgerung, es sei bei der Auffächerung in Bindestrich-Geschichten nicht mehr möglich, 'Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und Trends zu verstehen,' nicht wirklich plausibel ist. Denn es ist durchaus möglich, ?Bindestrich-Geschichten?, wie auch die Disability History eine ist, in Beziehung zum Wandel in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu setzen. Ebenso können die Ursachen für beobachtete Entwicklungen im Bereich der Geschichte von Menschen mit Behinderungen gegebenenfalls mit übergreifenden Prozessen verknüpft werden, die ihrerseits, wie jene der Modernisierung, der Individualisierung oder der Globalisierung, ebenfalls ?nur? Deutungsleistungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und keineswegs ?objektive? Tatsachen sind.
Wenn die Suche nach Zäsuren und die Auseinandersetzung mit Periodisierungsvorschlägen einer methodisch reflektierten geschichtswissenschaftlichen Darstellung den Weg bahnen können, so birgt dieses Vorgehen doch zugleich auch gewisse Gefahren. Beispielsweise gibt es die Tendenz, Zäsurvorschläge meist an augenfälligen, oft auch an spektakulären Ereignissen festzumachen - das Kriegsende 1945, die protes-tierenden Studierenden auf den Straßen 1968, der Mauerfall 1989 usw.; wer aber nur nach solchen Zäsuren sucht, gerät in Gefahr, das Prozesshafte des Strukturellen zu unterschätzen. Besonders in der Alltagsge-schichte, der Mentalitätsgeschichte, der Sozialgeschichte, der Kulturgeschichte sind die Rhythmen von Wandel nicht nur langsamer, sie lassen sich zudem auch nicht anhand ?herausragender Momente? exemplifizieren, vielmehr überwiegen hier die gleitenden Übergänge ebenso wie das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zusätzlich ist mit der Suche nach Zäsuren auch die Gefahr verbunden, eine mittlerweile heftig kritisierte, politik- und ereignisgeschichtlich aufgeladene top-down-Perspektive einzunehmen, denn als Zäsurereignisse werden tendenziell politische Entscheidungen, Taten ?großer weißer Männer? eher wahrgenommen als die vielen alltäglichen Handlungen der weniger Mächtigen und Einflussreichen. Deren Handeln kann aber in der Summe ebenfalls Strukturbrüche generieren - letztere sind in der Regel nur weniger sichtbar und schwieriger in Narrative zu überführen.
Die Vor- und Nachteile von Periodisierungsvorschlägen, die hier nur kurz angedeutet werden, analysiert der Beitrag von Ralph Jessen in diesem Sammelband in extensu. Er ist den thematischen Fallstudien vo-rangestellt, diskutiert er doch die methodologischen und theoretischen Überlegungen, welche die zeithistorischen Debatten um die Zäsuren und Kontinuitäten der Phase nach 1945 geprägt haben. Zudem widmet er sich den verschiedenen Vorschlägen zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, die in den vergangenen Jahren vorgebracht worden sind. Der zweite, grundlegende Beitrag von Wilfried Rudloff bietet einen ersten Überblick, welche Zäsuren und Kontinuitäten in drei ausgesuchten Lebenslagen - Arbeit, Bildung und Wohnen - von Menschen mit Behinderungen seit 1945 festgestellt werden können. Die folgenden Beiträge sind dann speziellen Problemstellungen der Disability History gewidmet.
Zäsuren in der Geschichte von Menschen mit Behinderungen seit 1945


Im vorliegenden Sammelband entwickelt Elsbeth Bösl für das rehabilitationspolitische Modernisierungsprojekt der 1970er Jahre die These, dass die Behindertenpolitik zu diesem Zeitpunkt nicht auf Gleichstellung zielte, sondern vor allem anstrebte, durch Rehabilitationsmaßnahmen Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Die behinderte