Teil 2
Auf der Suche nach positiven Lösungsansätzen
Im ersten Teil haben wir die verschiedenen Arten von Ehrenmord in ihrer Unterschiedlichkeit erläutert und deren fatale Folgen für die Betroffenen geschildert. In diesem Abschnitt des Buches geht es nun darum, uns drei mit dem Thema verknüpfte Fragen noch etwas genauer anzuschauen:
–Hat die Ehrenkultur auch positive Seiten?
–Lässt sich der Islam für den Kampf gegen Ehrenkultur gewinnen?
–Wurde auch Europa früher von einer Ehrenkultur beherrscht?
1. Positive Seiten der Ehrenkultur
Nach all dem, was wir bisher gesehen haben, erscheint es unwahrscheinlich, dass die Ehrenkultur auch positive Aspekte haben kann. Aber eine Kultur, die nur Negatives enthält, könnte gar nicht Jahrhunderte überleben. Es ist mir wichtig, dass im Zusammenhang mit dem Thema Ehrenmord kein falsches Feindbild geschaffen wird. Wenn die Ehrenkultur ganz ausgelöscht würde, ginge damit auch viel Positives verloren und die Gefahr, in ein gefährliches Gegenteil mit ungeahnten Folgen zu fallen, sollte nicht unterschätzt
werden.
Im Grunde ist es doch so, dass jeder Mensch, egal zu welcher Kultur er gehört, zutiefst im Herzen danach hungert, geehrt und respektiert zu werden. Genau bei diesem Bedürfnis knüpft die Ehrenkultur an. Ehr- und Schamgefühle sind niemandem unbekannt. Beobachten wir doch beispielsweise einmal ein Kind, dessen Eltern es unbedacht vor Besuchern bloßstellen. Auch wenn das Kind nicht versteht, was passiert, und seine Gefühle nicht in Worten ausdrücken könnte, verspürt es intuitiv einen tiefen inneren Schmerz.
Nicht nur Kinder, auch Erwachsene können völlig aus der Bahn geworfen werden, wenn plötzlich Dinge öffentlich bekannt werden, die ihre Privatsphäre betreffen. Ehr- und Schamgefühle sind niemandem unbekannt. Kränkungen können unter Umständen lebenslange Komplexe nach sich ziehen. Es sind derartige Erlebnisse, die zu Stolz und Hass, Neid und Minderwertigkeitsgefühlen führen. Um der Ehre willen ziehen Soldaten in den Krieg, und ihretwegen trainieren Sportler hart über viele Jahre, um Medaillen zu gewinnen.
Das Streben nach Ehre liegt in der Natur des Menschen, und zwar keineswegs nur innerhalb der sogenannten Ehrenkulturen. Wem wird es nicht warm ums Herz, wenn er gelobt wird? Und manch einer ist nur deswegen innerlich ausgebrannt, weil niemand seine Arbeit gewürdigt hat. Materiell gesehen macht es zwar vielleicht keinen Unterschied. Aber seelisch benötigt der Mensch dieses Lob genauso dringend wie den finanziellen Lohn. Die Menschheit ist sozusagen süchtig nach Lob und Ehre.
Schon viele Ehen sind gescheitert, weil der gegenseitige Respekt fehlte. Freundschaften zerbrachen, weil sich der eine über den anderen lustig machte. Warum sind wir eigentlich so hochempfindlich? Wieso empfinden wir dieses Gefühl, gering geachtet oder übergangen worden zu sein, als unerträgliche Demütigung? Was auch immer der Grund dafür sein mag – es ist eine natürliche Reaktion der menschlichen Seele. Jeder er