Fast ein Ende
Der Morgen des 25. Juni 1992 ist trüb. Es nieselt. Meine Tochter hat vor, gleich mit ihrem Roller zur Schule zu fahren. Ich werde mir ein Taxi zum Bahnhof nehmen, denn ich habe am Abend eine Lesung und noch eine weite Reise vor mir. Sie möchte allerdings unbedingt, dass ich mit ihr auf dem Roller fahre. Das Wetter ist zwar lausig, aber ich gebe nach und fahre mit ihr mit. Vor ungefähr drei Monaten habe ich mein Auto aufgegeben, als eine Art Deal mit den Mardern, denn ich liebe die Marderfamilie. Ich habe das Gefühl, sie sind eigentlich Untergrundkämpfer gegen den Autoverkehr. Seither versuche ich, mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln (den letzten Abenteuern der Menschheit) und Taxis durchzuschlagen. Zum Einkaufen nehme ich das Fahrrad.
Zur gleichen Zeit setzt sich Professor Edgar Biemer zum Frühstück hin. Karl Kandler, der Sozialarbeiter, richtet Kakao und Semmeln für seine Schützlinge in der Außenstelle der Heckscher-Kinderklinik auf der Rottmannshöhe her. Der Sanitäter Michael Schwedler hat in der Einsatzzentrale gerade mal eine ruhige Minute und trinkt einen Kaffee. Chirurg Klaus Höllenriegel verlässt seine Wohnung in München und steigt in sein schnelles Auto.
Am Abend zuvor war ich am Waldrand spazieren gegangen und auf einen Jägerstand geklettert. Erst oben merkte ich, wie wacklig und brüchig er war. »Wenn du hier runterfällst, brichst du dir alles«, dachte ich und weiß doch gar nicht, wie das ist, sich alles zu brechen: 42 Jahre bin ich alt und noch nie habe ich mir einen Knochen gebrochen. Zu Hause schrieb ich zwei Artikel, für die ich eigentlich noch lange Zeit hatte. Und einem Impuls folgend stellte ich für alle offenen Rechnungen Schecks aus. Sogar Briefmarken fanden sich. Noch am Abend lief ich zum Briefkasten und gab die ganze Post auf. Das hätte mich schon stutzig machen können. Aber was nützt das: Kann man aufhören zu leben, nur weil man Vorahnungen hat?
Ein Müllwagen biegt auf die Vorfahrtsstraße ein, auf der wir mit dem Roller fahren, der Fahrer sieht uns nicht. Ich schreie, Walli gibt Gas, der Reifen des Lasters streift fast meinen Arm.
Nach diesem Vorfall hätten wir umkehren können. Andererseits ist uns ja nichts passiert. Alles ging gut. Wir steigen ab, schimpfen, regen uns auf und ab. Zigarettenpause vor dem Super-GAU. Wir fahren weiter. Es ist 7:08 Uhr. Wir unterhalten uns schreiend durch die offenen Klappen unserer Helme. Ich bewundere Wallis Gelassenheit nach diesem Beinahe-Unfall. Ich denke: »Ich nehme den Zug um 8:03 Uhr nach München, dann gehe ich dort frühstücken. Und danach in die Biblio