1. KAPITEL
13 Jahre später …
Der scharfe, eisige Wind trieb den Schnee beinahe waagerecht gegen die Fenster der schnellen Überlandkutsche von Scarborough nach York. Charity Weston war froh, dass auf dem Dach des Gefährts wenigstens keine Fahrgäste saßen. Schwarze, tief hängende Wolken verfinsterten den ohnehin schon kurzen Januartag, bald würde es stockdunkel sein. Im Inneren der Kutsche konnte man die Hand kaum vor den Augen erkennen. Es war das ganze Gegenteil des hellen Rampenlichts, in dem sie die meisten ihrer Tage – oder vielmehr Nächte – verbrachte, wenn sie auf der Bühne stand.
Sie überlegte, was ihre Mitreisenden wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass sie Schauspielerin war. Sicher hätten der Farmer und seine Frau sie dann nicht so freundlich angelächelt, als sie ihren Platz einnahm. Doch so sahen sie nur eine modisch gekleidete Reisende mit ihrer Zofe vor sich. Charity sprach mit der sanften, kultivierten Stimme einer Dame und vermied die näselnde Sprechweise des Südens, die sie zusammen mit einem neuen Namen während ihres Engagements in London angenommen hatte. Wenn die beiden allerdings in der Nähe von Allingford wohnten, würden sie ihren Irrtum bald erkennen, denn Charity hatte das Angebot eines alten Freundes akzeptiert, seinem Theaterensemble beizutreten.
Eine neue Stadt, neue Rollen, ein neues Publikum. Früher hätte sie dieser Gedanke begeistert, aber aus irgendeinem Grund war es heute nicht so.
Werde ich alt? Ich bin siebenundzwanzig, und ich will nichts lieber als ein eigenes Heim …
Die Kutsche fuhr ratternd durch ein Dorf. Ihr Blick fiel auf ein Cottage, das etwas abseits der Straße lag. Anheimelnd schien das Licht aus den Fenstern im Erdgeschoss, die Haustür war offen. Eine Frau stand mit weit ausgebreiteten Armen davor, um die beiden kleinen Kinder aufzufangen, die auf sie zu rannten. Charity beobachete, wie sie die Kleinen umarmte und dann zu dem Mann aufblickte, der ihnen folgte. Selbst im Dämmerlicht konnte man ihr Gesicht glücklich strahlen sehen.
Das war es, was sie sich wünschte: ein Heim und eine Familie, die sie liebte.
Es war eine Szene des Glücks gewesen, doch sie wusste nur zu gut, wie sehr der Augenschein trügen konnte. Wenn alle im Haus und nicht mehr von draußen zu sehen waren, konnte es durchaus sein, dass die Kinder sich hinter den Röcken ihrer Mutter versteckten, während der Vater sich vor ihnen aufbaute – Bibel in der einen, Reitpeitsche in der anderen Hand –, vollkommenen Gehorsam von ihnen verlangte und jeden Widerstand mit einer Tracht Prügel bestrafte. Charity lehnte sich schaudernd in ihre Ecke zurück und schloss die Augen. Vielleicht war es ein Fehler, nach Allingford zu fahren, wo sie so nah bei ihrem Herkunftsort sein würde.
Unverhofft wurde die Kutsche langsamer, und man hörte laute Stimmen von draußen. Betty, ihre Zofe, fragte ängstlich: „Oh Gott, was ist passiert?“
„Höchstwahrscheinlich steht eine Kuh auf der Straße“, erwiderte Charity gelassen. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. „Nein“, sagte sie ruhig. „Es ist kein Tier, zumindest keins mit vier Beinen. Es ist ein Wegelagerer.“
Betty schnappte nach Luft. Die Farmersfrau umklammerte ängstlich das silberne Medaillon, das sie an einer Kette übe