1. KAPITEL
Es gab niemanden, der das verschlafene kleine Dörfchen Paddington vor dem unerhörten Ereignis, das an diesem Tag seinen Lauf nehmen sollte, gewarnt hätte. Stattdessen schien die Sonne warm auf die dankbaren Einwohner, während Bienen und Schmetterlinge geschäftig in den Hecken herumschwirrten. Gemächlich trottete das Pferd des Kärrners um das Gatter des Dorfangers, und der Bäckerbursche, der soeben mit der Auslieferung eines Auftrages betraut aus dem Geschäft seines Lehrherren kam, pfiff laut vor sich hin. Er winkte fröhlich, als er die junge Dame auf dem Zaun hocken sah, der den Anger am Rand der nach Egdware führenden Straße umgab. Es war ihm kaum zu verargen, dass er ihre verräterisch geröteten, in Tränen schwimmenden braunen Augen nicht bemerkte, denn innerhalb der pittoresken Szene war Miss Katherine Merrick zweifellos ein besonders hübscher Blickfang.
Eine Fülle schimmernder schwarzer Locken, die unter dem Strohhut hervorquollen, fiel ihr auf den Rücken. Ihr Gesicht war unleugbar reizvoll. Sie hatte eine gerade Nase und einen vollen Mund, den sie jetzt jedoch unzufrieden verzog. Allerdings hätte ihr etwas anderes als die verblasste rosa Barchentrobe mit der aus der Mode gekommenen tief angesetzten Taille und den dreiviertellangen Ärmeln besser gestanden. Und der kurze Saum enthüllte mehr als nur ein Stück der weißen Baumwollunterhose, die sie so verabscheute.
Wollte sie der Wahrheit die Ehre geben, so mochte sie nichts an ihrem unmöglichen Aufzug, angefangen bei den alten schwarzen Escarpins bis hin zur Unterwäsche, durch die ihre üppige Figur äußerst unschmeichelhaft eingezwängt wurde. Das Kleid war lediglich um ein geringfügiges weniger hassenswert als die übrigen Sachen. Aber wie sollte man auch mit lächerlichen Einkünften von drei Shilling in der Woche zurechtkommen?
Sie hatte das aussortierte rosafarbene Kleid durch die Vermittlung der ersten Hausangestellten im „Wohltätigkeitsinstitut für mittellose junge Mädchen“ bekommen, wo sie länger gelebt hatte, als sie nachrechnen mochte. Es gefiel ihr überhaupt nicht, aber sie hatte einen ganzen Wochenlohn dafür bezahlt, weil es sonst keine Möglichkeit gab, ihre Garderobe aufzustocken. Und die bestand aus dem schrecklichen grauen, im Institut vorgeschriebenen Einheitsgewand. Nachdem sie jetzt – genau genommen – keine Schülerin mehr war, hatte Mrs Duxford entschieden, dass sie für ihre Dienste ein kleines Entgelt erhalten müsse. Und gerade rechtzeitig! Es war länger als einen Monat her, dass man sie zu der anstrengenden Aufgabe gezwungen hatte, den jüngeren, unbeholfenen Mädchen beim Tanzunterricht ein Minimum an Grazie einzutrichtern. Sie war sich dabei vorgekommen, als müsse sie eine Horde Elefanten unterweisen!
Katherine wischte sich mit dem feuchten Taschentuch über die Augen. Vielleicht war es besser, ihre Sehnsüchte zu verdrängen und den neuesten Posten in einer Reihe schrecklicher Anstellungen anzunehmen, die Mrs Duxford, „die Ente“, ihr aufnötigen wollte. Aber wie konnte sie hoffen, die Erfolge ihrer liebsten Freundinnen als Gouvernanten in einem Haushalt zu wiederholen, in dem der älteste Sohn erst elf Jahre alt und kein Witwer in Sicht war?
Bei dem Gedanken an Helen Faradays bevorstehende Hochzeit rannen ihr neue Tränen über die Wangen. Der Brief, den Mr Duxford, als er die Post verteilte, ihr an diesem Morgen beim Frühstück ausgehändigt hatte, war in überschwänglichen Formulierungen gehalten gewesen, die so gar nicht zu ihrer Freundin passten. Katherine drückte das Taschentuch auf die Augen und versuchte vergeblich, ihr Schluchzen einzudämmen. Kläglich redete sie sich ein, sich für Nell zu freuen. Hatte sie dieses Ergebnis nicht in dem Moment vorausgesagt, als sie von Lord Jarrow und seinem gotischen Schloss gehört hatte? Ihre Freundin hatte sich innerhalb weniger kurzer Wochen in den Witwer verliebt. Wohingegen Prue … Wer hätte gedacht, dass eine so unscheinbare Person bei einem Mann romantische Gefühle wecken würde? Und nun war sie Mrs Rookham und schrecklich glücklich. Es war schlimm!
Kaum war Katherine dieser unfreundliche Gedanke in den Sinn gekommen, tadelte sie sich im Stillen. Sie konnte die liebe Prue nicht beneiden. Und mit einem Bürgerlichen hätte sie sich auch nicht begnügt. Aber es war wirklich schwer, als Letzte zurückgeblieben zu sein. Von den drei Freun