1. KAPITEL
Die Wellen des Meeres schlugen wild und ungestüm gegen den Bug der mächtigen weißen Fähre, die sich mit gedrosseltem Tempo durch die dunkle Nacht Richtung Korsika manövrierte. Judy hielt sich mit beiden Händen an der nassen Reling fest und holte langsam tief Luft. Die Gischt und der Regen schlugen ihr ins Gesicht, der starke Wind ließ ihr langes honigblondes Haar in alle Richtungen wehen.
„Mademoiselle, kommen Sie sofort von Deck“, meinte sie, eine laute Stimme hinter sich zu hören, doch Judy kümmerte sich nicht um den warnenden Ruf. Für sie war das Gewitter eine wohltuende Naturgewalt, und sie genoss die erfrischenden Tropfen auf ihrer Haut.
Schon als kleines Mädchen war sie an verregneten Sommertagen an der Küste Südenglands entlanggewandert, um Muscheln und Treibgut zu sammeln. Als Besitzer eines großen Strandhotels hatten ihre Eltern nur wenig Zeit für sie gehabt, und Judy war oft stundenlang allein herumgestreunt. Doch jetzt, wo sie in den schönsten Hotelanlagen der Welt als Sportmanagerin arbeitete, gehörten Begriffe wie Ruhe und Einsamkeit endgültig der Vergangenheit an. Ihre Arbeit war ihr Leben, und das bedeutete hundertprozentigen Einsatz rund um die Uhr.
Dennoch dachte Judy wehmütig an dasVictoria Beach Hotel zurück, das ihr einziges Zuhause gewesen war und nach dessen Verkauf sie von einer Rastlosigkeit getrieben wurde, die ihre Mutter als Flucht bezeichnete.
Doch diesem Vorwurf widersprach Judy energisch. Sie hatte sich schon immer danach gesehnt, fremde Länder und neue Menschen kennenzulernen. Sie wollte ihr Leben nicht nur an einem Ort verbringen.
Gedankenverloren strich sie sich die regennassen Haare aus dem Gesicht und merkte gar nicht, wie das Schiff noch tiefer in die nächste Welle einsank. Erst als sie spürte, dass sie auf dem glatten Boden wegrutschte, klammerte sie sich wieder an das Geländer.
Vielleicht sollte ich besser hineingehen und mir die restliche Zeit wie die übrigen Passagiere in der Kabine oder einem der Restaurants vertreiben, ermahnte sie sich. Sie war zwar abenteuerlustig, aber nicht lebensmüde.
Bevor sich das mächtige Fährschiff auf die nächste Welle zubewegte, löste Judy sich von der Reling, um sich in Richtung der Eingänge zu bewegen, als sie am Oberarm festgehalten wurde.
„Sind Sie immer so stur?“, schrie jemand sie durch den Wind an. Abrupt drehte sie sich um, und blickte in die dunkelsten Augen, die sie je gesehen hatte. Wie in einen Sog gezogen, sah sie sich einem Mann gegenüber, der anscheinend der Überzeugung war, sie retten zu müssen.
„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, hielt sie ihm ungehalten entgegen und riss sich von ihm los.
Doch weder Halt an der Reling zu finden noch eine starke Männerhand zur Seite zu haben, erwies sich unter den gegebenen Wetterbedingungen als fatal. Die Planken des Schiffes waren durch den Regen so glatt und rutschig geworden, dass Judy das Gleichgewicht verlor. Der Aufstieg des Bugs in die nächste Welle warf sie ohne jegliche Vorwarnung direkt an die Brust des fremden Mannes.
Hart prallten sie aneinander. Ein Duft nach Leder und Meersalz umhüllte sie. Judy glaubte, noch nie zuvor in ihrem Leben etwas Besseres und Sinnlicheres gerochen zu haben. Das Schiff schien sich nicht mehr zu bewegen, und sie nahm den prasselnden Regen kaum mehr wahr. Sie spürte nur noch die starken Arme, die sich kraftvoll um ihre schmalen Schultern geschlossen hatten.
Im nächsten Moment sank das Schiff erneut in das tiefe Tal einer Welle. Judy kam genauso schnell wieder auf den Boden der Realität zurück, wie sie ihn für den Bruchteil einer Sekunde unter ihren Füßen verloren hatte. Hastig entzog sie sich der Umarmung des Fremden und schüttelte den Regen von sich ab wie eine junge Katze, die gerade aus dem Wasser gefischt worden war.
Eric trat einen Schritt zurück, aber er konnte den Blick nicht von der jungen Frau lassen. Ihre langen Haare hingen in langen Strähnen um ihr hübsches, ausdrucksvolles Gesicht. Der Blick aus ihren blauen