1. KAPITEL
„Aber ich behandle grundsätzlich keine männlichen Patienten“, erklärte Lily ihrer Chefin an der South London Rehabilitation Clinic. „Das wissen Sie doch genau.“
„Ich weiß, aber das hier ist eine tolle Gelegenheit“, entgegnete Valerie. „Raoul Caffarelli ist stinkreich. In den vier Wochen bei ihm in der Normandie würden Sie mehr verdienen als hier in einem Jahr, und ich habe sonst niemanden, der für den Job infrage kommt. Außerdem hat sein Bruder ausdrücklichSie verlangt.“
Lily runzelte die Stirn. „Sein Bruder?“
Valerie verdrehte vielsagend die Augen. „Na ja, anscheinend verweigert Raoul jegliche Behandlung. Seit seiner Reha lebt er ziemlich zurückgezogen. Sein älterer Bruder Rafe hat einen Artikel über Ihren Erfolg bei Scheich Kasim Al-Balawis Tochter gelesen und will unbedingt, dass Sie seinem Bruder helfen. Geld spielt für ihn offensichtlich keine Rolle.“
Lily biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Die Aussicht auf ein großzügiges Sonderhonorar war ziemlich verlockend, vor allem in Anbetracht der katastrophalen finanziellen Situation ihrer Mutter. Doch die Vorstellung, einen Mann in seinem Zuhause zu behandeln, war ein Alptraum. Selbst wenn dieser Mann auf einen Rollstuhl angewiesen war.
Ich war seit fünf Jahren nicht auch nur in der Nähe eines Mannes.
„Meine Antwort lautet Nein“, sagte Lily und kehrte ihrer Chefin den Rücken zu, um eine Patientenakte abzulegen. „Niemals. Sie müssen jemand anderes hinschicken.“
„Ich fürchte, ein Nein ist keine Option“, erklärte Valerie. „Die Caffarelli-Brüder sind dafür bekannt, nicht lockerzulassen, und Rafe will unbedingt, dass Raoul bei seiner Hochzeit im September Trauzeuge ist. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass Sie die Einzige sind, die seinem Bruder wieder auf die Beine helfen kann.“
Lily schob die Schublade zu und drehte sich zu Valerie um. „Hält er mich etwa für eine Wunderheilerin? Sein Bruder wird vielleicht nie wieder auf die Beine kommen, schon gar nicht in ein paar Wochen.“
„Ich weiß, aber Sie könnten ihn sich doch zumindest mal ansehen“, bat Valerie. „Der Job ist ein Traum – freie Kost und Logis in einem alten Château in der Normandie. Nehmen Sie den Auftrag an, Lily. Sie würden mir und der Klinik damit einen riesigen Gefallen erweisen. Das Ganze ist die perfekte Gelegenheit, unseren guten Ruf seit Ihrem Erfolg mit der Tochter des Scheichs noch weiter zu festigen. Wir werdendie ganzheitliche Klinik für die Reichen und Berühmten sein. Man wird uns förmlich die Türen einrennen.“
Lily versuchte, einen Anflug von Panik zu unterdrücken. Ihr Herz raste, als habe sie gerade zu Fuß das oberste Stockwerk eines Wolkenkratzers erklommen. Verzweifelt versuchte sie, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, aber jedes Mal, wenn ihr eine durch den Kopf schoss, kam ihr der Wunsch in die Quere, ihrer Mutter zu helfen. Außerdem wollte sie sich ihrer Arbeitgeberin gegenüber loyal zeigen.
Werde ich das durchstehen?
„Ich muss mir erst mal Mr Caffarellis Röntgenaufnahmen und seine Krankenakte ansehen. Möglicherweise kann ich gar nicht viel für ihn tun. Es wäre verkehrt, ihm oder seinem Bruder falsche Hoffnungen zu machen.“
Sofort setzte sich Valerie an ihren Computer und ließ ihre Finger über die Tastatur eilen. „Ich habe die Aufnahmen und ärztlichen Gutachten bereits hier. Rafe hat sie mir gemailt. Ich leite sie in diesem Augenblick an Sie weiter.“
Kurz darauf warf Lily in ihrem Büro einen Blick auf die Unterlagen. Raoul Caffarelli hatte bei einem Wasserski-Unfall eine Wirbelsäulenverletzung erlitten. Sein rechter Arm war gebrochen, heilte jedoch anscheinend gut. Er hatte nur wenig Gefühl in den Beinen und konnte ohne fremde Hilfe weder stehen noch laufen. Die Neurochirurgen waren zu dem Schluss gekommen, dass seine Beine vermutlich nie wieder normal funktionieren würden, doch Lily hatte schon zu viele Fehlprognosen gelesen, um sich davon beeinflussen zu lassen.
Manche Wirbelsäulenverletzungen waren irreparabel, andere wiederum nicht, und dazwischen war alles möglich. Das hing von der Art der Verletzung ab – und von der Einstellung und dem allgemeinen ge