1. KAPITEL
Leise stieg der Mann aus dem Wasser, sein schwarzer Neoprenanzug glänzte im blassen Mondlicht wie die Haut eines Seehundes. Einen Moment lang stand der Taucher reglos da und lauschte, doch das einzige Geräusch kam von den Wellen, die gegen den Bootsanleger schlugen. Nachdem der Mann einen letzten Blick in die unergründlichen Tiefen des Kanals geworfen hatte, suchte er Schutz in der Dunkelheit des gegenüberliegenden Lagerhauses.
Schwer atmend trat er hinter eine Palette mit Obstkisten, nahm die Taucherbrille ab und zog sich geschickt den Neoprenanzug aus. Innerhalb von Sekunden hatte er beides zu einem Bündel zusammengerollt und in einem Gitarrenkasten verstaut. Die Sauerstoffflaschen versteckte er hinter einigen Kartons. Schließlich streifte er sich sein Jackett über, band sich die Krawatte fest und öffnete dann, den Gitarrenkasten in der Hand, lautlos die Tür.
Nachdem sich der Mann vergewissert hatte, dass sich keine Menschenseele am Kai befand, verließ er das Gebäude, wobei seine dicken Kreppsohlen nicht das leiseste Geräusch auf den Betonplatten verursachten.
Der Conte Cesare Vidal kletterte geschmeidig aus der Gondel, bezahlte den Gondoliere und schlenderte lässig den Säulengang hinunter, der den privaten Bootssteg mit dem Innenhof desPalazzo Vidal verband.
Ein rosaroter Streifen am Horizont überzog die zahllosen Kuppeln der Paläste und die vielen Glockentürme der Stadt mit goldenem Schimmer. Ein neuer Tag brach an. Schon bald würden die Kanäle von Gondeln, Lastkähnen und Motorbooten nur so wimmeln, und dievaporetti, die Liniendampfer, würden Gäste vom Bahnhof über den Canal Grande zu ihren Luxushotels befördern.
Für den Conte war Venedig jedoch keine Touristenattraktion, sondern sein Zuhause. Obwohl der u-förmig gebaute Palazzo ziemlich heruntergekommen war, wirkte seine bröckelnde Fassade immer noch eindrucksvoll. Mit ihren typisch venezianischen Loggien, Rundbogenfenstern und Stuckverzierungen spiegelte sie den Wohlstand vergangener Generationen wider. Trotzdem wäre es möglich, diesen ehemaligen Glanz wiederherzustellen – wenn die Familie die finanziellen Mittel ihrer Vorfahren besessen hätte.
Eine eisenbeschlagene Tür führte in eine riesige, dunkle Halle, in deren Mitte ein gewundener Treppenaufgang zu der Galerie im ersten Stock lag. Hier befanden sich außer einigen Gäste- und Badezimmern und dem Küchentrakt die Wohnungen des Conte und seiner Großmutter, der verwitweten Contessa Francesca.
Die übrigen Gemächer des großen Palazzos wurden nicht bewohnt und waren der Feuchtigkeit und damit dem Verfall ausgesetzt. Gelegentlich überkam den Conte bei diesem Gedanken ein Anflug des Bedauerns. Doch er hatte nicht das Geld, die Zimmer instand zu setzen, es sei denn, er heiratete eine reiche Erbin – und das war sehr unwahrscheinlich.
Obwohl er keinerlei Schwierigkeiten hatte, Frauen kennenzulernen, hatte er bisher noch keine getroffen, deren Vermögen auch nur annähernd groß genug war, dass er es in Erwägung gezogen hätte, sein Junggesellendasein aufzugeben.
Eines Tages, das wusste er, würde er heiraten müssen, schon um einen Sohn zu zeugen, der den Familiennamen weiterführte. Die Bemühungen mancher eifriger Mütter, ihre Töchter mit einem Adligen zu verkuppeln, entlockten ihm jedoch nur ein müdes Lächeln. Warum sollte er eine Frau heiraten, wenn er sie auch ohne Trauschein haben konnte?
Die Contessa missbilligte seinen Lebenswandel zutiefst. Ihrer Meinung nach verbrachte ihr Enkel die Nächte in fragwürdiger Gesellschaft beim Glücksspiel, und er war daran gewöhnt, sich beim Frühstück Vorhaltungen machen lassen zu müssen.
Seine Eltern waren gestorben, als er erst achtzehn Jahre alt war. Von einem Tag auf den anderen war er nicht nur Waise, s