1. KAPITEL
Lesley Campbell starrte anklagend auf den Kalender. Der 15. Juni hätte ihr Hochzeitstag werden sollen. Aber sie würde keine Braut sein. Das Hochzeitskleid, das irgendwo im hintersten Teil ihres Kleiderschrankes hing, würde mit der Zeit wahrscheinlich gelbstichig werden. Und wenn man Seattles feuchtes Klima berücksichtigte, würde das wunderschöne Seiden- und Spitzenkleid sogar Stockflecken bekommen.
Also gut, dachte Leslie und straffte die Schultern, ich werde mich nicht von einer aufgelösten Verlobung unterkriegen lassen. Sie hatte ein ausgefülltes Leben, gute Freunde und Freundinnen. Sicherlich würde eine von ihnen sich an die Bedeutung des heutigen Tages erinnern und sie anrufen. Sicherlich hatten weder Jo Ann noch Lori vergessen, welche Bedeutung der heutige Tag für sie besaß. Lesley hätte sich keine besseren Freundinnen wünschen können als ihre Lehrerkolleginnen Jo Ann und Lori. Beide wären Brautjungfern gewesen, wenn es zur Hochzeit gekommen wäre. Bestimmt erinnerten die beiden sich daran und planten etwas Besonderes, um sie aufzumuntern. Irgendeine Überraschung. Irgendetwas, das ihre Traurigkeit verfliegen lassen und sie wieder zum Lachen bringen würde.
Das flaue Gefühl in ihrer Magengegend verstärkte sich noch, und sie schloss die Augen und atmete so lange tief ein und aus, bis es ihr wieder besser ging. Sie weigerte sich, Tony die Macht zu überlassen, sie zu verletzen. Es war schlimm genug, dass sie zusammenarbeiten mussten. Dem Himmel sei Dank war die Schule für diesen Sommer zu Ende, und sie hatte drei Monate Ferien, um sich zu erholen und neue Kraft zu schöpfen.
Lesley öffnete den Kühlschrank und hoffte, darin irgendetwas Appetitanregendes zu entdecken. Aber darin lagen noch immer derselbe leicht welke Salatkopf, zwei überreife Tomaten und eine schrumpelige Zucchini. Nun, eigentlich war ihr das auch gleichgültig. Sie hatte sowieso keinen Appetit.
Männer … wer braucht die schon, fragte sich Lesley, während sie die Kühlschranktür wieder schloss. Nicht sie. Nie wieder.
Einige ihrer männlichen Bekannten und Freunde hatten in der letzten Zeit versucht, eine Beziehung über das freundschaftliche Maß hinaus mit ihr einzugehen. Aber Lesley stand allen Bemühungen nur gelangweilt gegenüber.
Der Mann, den sie geliebt hatte, der Mann, dem sie drei Jahre ihres Lebens geschenkt hatte, hatte sechs Monate vor ihrer Hochzeit verkündet, dass er noch nicht so weit sei, um sich endgültig zu binden. Leslie hatte es nicht fassen können. Sie waren bereits in den letzten zwei Jahren am College zusammen gewesen und hatten zur gleichen Zeit ihre Lehrerausbildung gemacht. Sie hatten sogar an der gleichen Grundschule gearbeitet, sich jeden Tag gesehen, und dann – wie ein Blitz aus heiterem Himmel – hatte Tony behauptet, dass er mehr Zeit brauche.
Nur eine Woche später hatte Lesley feststellen müssen, wasmehr Zeit bedeutete. Tony hatte sich Hals über Kopf in eine Kollegin verliebt. Nachdem er drei Wochen lang mit April Packard ausgegangen war, hatte Tony die Verlobung mit Lesley gelöst. Als wenn das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, heirateten Tony und April bereits einen Monat später. Da Lesley einen Arbeitsvertrag und nur wenig Gespartes hatte, konnte sie die Schule nicht ohne weiteres verlassen und war gezwungen, sich jeden Tag das Glück des frisch vermählten Paar