1. KAPITEL
„Wer zum Teufel ist Jess?“
Frustriert strich sich Drago Cassari das schwarze Haar aus der Stirn und betrachtete mit zunehmender Besorgnis die reglose Gestalt seines Cousins. Angelos Gesicht war aschfahl, und nur das kaum wahrnehmbare Heben und Senken des Bettlakens bewies, dass er am Leben war. Seit drei Tagen – seitdem man ihn aus dem zertrümmerten Auto gezogen hatte – lag er ohne Bewusstsein auf der Intensivstation des Krankenhauses in Mestre, einem Stadtteil Venedigs auf dem Festland. Zumindest musste er nicht länger künstlich beatmet werden, und vor einer halben Stunde hatte es ein erstes Anzeichen gegeben, dass Aussicht auf Besserung bestand. Er hatte etwas vor sich hin gemurmelt, einen Namen –Jess.
„Wisst ihr, wen er meint?“ Fragend sah Drago zu seiner Mutter und seiner Tante hinüber, die, in Tränen aufgelöst, auf der anderen Bettseite standen. „Ist sie eine seiner Bekannten in London?“
Tante Dorotea – Angelos Mutter – schluchzte. „Ich weiß nicht, wer sie ist. In letzter Zeit habe ich kaum mit ihm gesprochen, weil sein Handy ständig abgestellt war. Als ich ein paar Tage vor dem …“, ihre Stimme zitterte, „… vor dem Unfall endlich durchkam, hat er kaum etwas gesagt. Nur, dass er nicht mehr aufs College geht und bei einer Jess Harper wohnt.“
„Vermutlich ist sie seine Geliebte.“ Die Nachricht, dass sein Cousin den Betriebswirtschaftskurs an einer Privatschule in London abgebrochen hatte, war für Drago keine große Überraschung. Mit sieben hatte der Junge den Vater verloren, und seine Mutter war viel zu nachsichtig mit ihm. Allem, was nach Arbeit aussah, ging Angelo geflissentlich aus dem Weg. Weit mehr überraschte ihn, dass er mit einer Frau zusammenlebte, denn was das schöne Geschlecht betraf, so war er von geradezu krankhafter Schüchternheit. Anscheinend hatte sich das geändert.
„Hat er dir gesagt, wo man ihn erreichen kann? Wir sollten mit dieser Jess Harper Verbindung aufnehmen, damit sie ihn besuchen kommt.“ Er wandte sich an den Neurologen, der ebenfalls am Bett des Patienten stand. „Glauben Sie, der Klang ihrer Stimme könnte dazu beitragen, dass mein Cousin das Bewusstsein wiedergewinnt?“
„Möglich ist es“, erwiderte der Arzt bedächtig. „Wenn er ihr nahesteht, könnte es durchaus sein, dass er reagiert.“
„Ich bin nicht sicher, dass es eine gute Idee ist, die … die Person nach Venedig kommen zu lassen“, widersprach Tante Dorotea. „Ich fürchte, sie hat einen schlechten Einfluss auf Angelo.“
Drago runzelte die Stirn. „Wenn sich sein Zustand durch ihre Anwesenheit bessern könnte, muss sie so schnell wie möglich herkommen. Wie kommst du darauf, dass sie einen schlechten Einfluss auf ihn hat?“
Geduldig wartete er, als Tante Dorotea erneut in Tränen ausbrach. Die Ärmste war vor Sorge um ihren Sohn fast außer sich. Ihm selbst erging es kaum besser. Nach der Operation, mit der die Ärzte die Hirnblutung zum Stillstand gebracht hatten, konnte niemand sagen, wann und in welcher Verfassung Angelo aus dem Koma aufwachen würde. Sein Cousin war noch so jung, erst zweiundzwanzig, und im Gegensatz zu ihm selbst im gleichen Alter in vieler Hinsicht noch ein Kind.
Der Tod seines Vaters und seines Onkels – beide waren während eines Skiurlaubs in einem Lawinenunglück ums Leben gekommen – hatte Drago vor fünfzehn Jahren von einem Tag auf den anderen an die Spitze des Familienunternehmens und damit in die Welt des Big Business katapultiert. Mit zweiundzwanzig hatte er sich bereits im erbarmungslosen Konkurrenzkampf von Großunternehmen behaupten und gleichzeitig die Pflichten eines Familienoberhaupts übernehmen müssen, unter anderem die eines Ersatzvaters für Angelo.
Ihn jetzt in diesem Zustand zu wissen, schnitt ihm ins Herz. Das Warten und die Angst, der Gehirnschaden könnte irreparabel sein, waren die reinste Tortur. Als Mann der Tat war er gewohnt, jede Situation