1. KAPITEL
Er konnte es nicht fassen, dass seine Schwester ihren Sohn lieber Shaye Bartholomew anvertraut hatte als ihm. Dylan Malloy hatte zwei Reisetage hinter sich und stand noch immer unter Schock, als er die Neugeborenen-Intensivstation betrat. Eindringlich betrachtete er die Frau, die neben Timmys winzigem Bett saß – die Frau, die das Sorgerecht für seinen Neffen besaß.
Walter Ludlows Anruf war ein schwerer Schlag gewesen, von dem Dylan sich immer noch nicht erholt hatte. Sein Anwalt und langjähriger väterlicher Freund hatte ihn von Wild Horse Junction in Wyoming aus in Tasmanien erreicht.
„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll“, hatte Walter gesagt. „Julia und Will hatten einen schlimmen Unfall. Will war sofort tot. Julia hat noch so lange durchgehalten, bis Timmy geboren war. Dann haben wir auch sie verloren.“
Dann haben wir auch sie verloren.
Dylan war wie vor den Kopf gestoßen. Und gleich darauf hatte Walter hinzugefügt: „Julia hat Shaye Bartholomew die gesetzliche Vormundschaft übertragen. Sie wollte dich nicht noch einmal belasten.“
Dylan war kaum in der Lage zu begreifen, dass er Julia verloren hatte. Die Trauer hüllte ihn ein wie ein düsterer Schatten, der keinen Raum für irgendetwas anderes ließ.
„Kämpfe, Timmy. Du musst kämpfen“, hörte er nun Shaye Bartholomews leise, brüchige Stimme.
Die Ärzte hatten Dylan erklärt, in welchem Zustand Timmy sich befand. Er war erst achtundzwanzig Wochen alt und wurde künstlich beatmet, um seine Lungen zu unterstützen. Seine Überlebenschancen standen gut. Aber beim Anblick der vielen Schläuche und Drähte fiel es Dylan schwer, den Ärzten zu glauben.
Shaye hatte sich über das Baby gebeugt, und ihre Lippen bewegten sich. Vielleicht im Gebet?
Seine Arbeit als Tierfotograf hatte Dylan Stille und Geduld gelehrt. Aber nun hatte er Fragen, und Shaye Bartholomew kannte die Antworten. „Miss Bartholomew?“
Erstaunt blickte sie auf, erkannte ihn jedoch sofort. Sie hatten sich bei Julias College-Abschlussfeier kennengelernt und angefreundet.
„Mr Malloy. Das mit Julia tut mir schrecklich leid.“ Tränen standen in ihren Augen.
Am liebsten hätte er sie in diesem Moment in die Arme genommen, um ihnen beiden Trost zu spenden. Doch Dylan wusste, dass er ungepflegt aussah. Er war unrasiert, sein Haar zerzaust und das Sweatshirt völlig zerknittert.
„Ich bin so schnell gekommen, wie es ging.“ Er hatte gerade Kängurus fotografiert, als der Anruf kam. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Shaye stand auf, damit er näher an das Bett herantreten konnte. Er bemerkte, wie ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare in dem künstlichen Licht schimmerten, und sah den Glanz in ihren bernsteinfarbenen Augen. Ihre Blicke trafen sich, bevor Dylan auf seinen kleinen Neffen hinunterblickte.
Sanft meinte Shaye: „Während Julias Schwangerschaft haben wir über Namen gesprochen. Sie wollte ein Mädchen nach eurer Mutter und einen Jungen nach eurem Vater nennen.“
Ironischerweise waren ihre Eltern genau wie Julia und ihr Mann auf einer vereisten Straße ums Leben gekommen.
Die Schärfe in Dylans Stimme war nicht zu überhören, als er erklärte: „Ich möchte wissen, wieso Sie zu Timmys Vormund ernannt worden sind …“
Da begann auf einmal einer der Monitore laut zu piepen. Sofort erschien eine Krankenschwester an Timmys Bett, während eine andere schnell einen Arzt holte.
Ein Arzt im weißen Kittel eilte herein. Eine der Schwestern legte Shaye die Hand auf den Arm und sagte zu Dylan: „Bitte warten Sie draußen.“
„Ich will wissen, was hier passiert“, verlangte er. Sein Herz hämmerte wie wild vor Angst um seinen Neffen.
„Wir müssen sie ihre Arbeit tun lassen.“ Shaye zog ihn beiseite. „Der Arzt wird mit uns reden, sobald sie Timmy stabilisiert haben. Wir sind hier nur im Weg.“
Ungehalten befreite Dylan sich aus ihrem Griff und ging mit langen Schritten zur Tür.
Im Vorraum wies Shaye auf das Wartezimmer, doch er lief lediglich unruhig auf und ab. „Ich bleibe lieber in der Nähe.“ Er fuhr sich durch das sandfarbene Haar, und wieder sah sie den Schmerz in seinen grünen Augen.
Sie wünschte, sie könnte seinen Kummer lindern, aber das konnte niemand. „Haben Sie schon mit dem Arzt gesprochen?“
„Ja, als ich in London auf meinen Anschlussflug warten musste.“
„Dann wissen Sie ja auch, dass jetzt alles von Timmy abhängt. Wie er auf die Antibiotika und all die anderen Maßnahmen reagiert.“
„Das verstehe ich