1. KAPITEL
Aaron Walker seufzte. Wie schön wäre es, wenn sein Zwillingsbruder Andrew auch mal einen peinlichen Fehler machte, über den ihre große, liebenswerte Familie sich amüsieren konnte, anstatt sich über Aaron aufzuregen. Aber Andrew unterliefen äußerst selten Fehler, und Andrew musste nie gerettet werden. Im Gegenteil, er rettete andere Menschen.
Natürlich war auch Andrew als Kind und Jugendlicher kein Heiliger gewesen. Als Mitglied des „schrecklichen Trios“, zu dem damals die Zwillinge und ihr gleichaltriger Cousin Casey Walker gehörten, hatte er den Erwachsenen oft genug Sorgen bereitet. Aber inzwischen war Casey verheiratet und Rechtsanwalt in Tennessee, und Andrew machte im familieneigenen Sicherheitsunternehmen Karriere. Aaron war der Einzige, über den alle anderen die Stirn runzelten.
Andrew arbeitete wie ein Besessener und beklagte sich über Aarons Ziellosigkeit. Gerade hatte Aaron mal wieder eine der Strafpredigten seines Bruders über sich ergehen lassen müssen, nachdem er seinen Job hingeworfen hatte. Wenn er eines Tages im Familienunternehmen arbeiten wolle, müsse er seinem Leben endlich eine klare Richtung geben … und so weiter. Das hatte Aaron auch schon von seinem Vater, seinen Onkeln, seiner Mutter, seinem Großvater und einigen Cousins gehört – aber Andrews Vorhaltungen ärgerten ihn am meisten.
Aaron stand auf, um das Büro seines Bruders zu verlassen. Dabei fiel sein Blick auf eine bunte Broschüre, die auf dem Boden lag. Offenbar hatte Andrew sie wegwerfen wollen und den Papierkorb verfehlt. Aaron hob sie auf und betrachtete die Fotos des Hochglanzprospekts.
DasBell Resort and Marina lag am Lake Livingston, einem großen Stausee etwa hundertsiebzig Meilen südöstlich von Dallas. Aaron war noch nie in der Ferienanlage gewesen, aber er kannte den See. Gutes Angelrevier, entspannte Atmosphäre. Die Fotos zeigten fröhliche Menschen, die Wasserski liefen, badeten, picknickten oder einfach in der Sonne lagen, und er wünschte, er wäre dort und nicht in Dallas bei seiner anstrengenden Familie. Spontan steckte er die Broschüre ein und ging zur Tür.
Vierundzwanzig Stunden später stand Aaron neben seinem Wagen und sah auf die Anzeige der Tanksäule. Es war ein heißer Junitag. Benzingeruch lag in der Luft. Aaron zupfte am Kragen des hellblauen T-Shirts, das er zu den kakifarbenen Cargoshorts und Sandalen trug. Nach der vierstündigen Fahrt freute er sich darauf, mit einem kalten Bier im Schatten eines Baums am Wasser zu sitzen.
Laut Beschreibung lag das Bell Resort nur eine Viertelstunde von der Kleinstadt entfernt, in der er gehalten hatte, um zu tanken und sich frisch zu machen. Hier gab es nicht viel zu sehen, nur ein paar Häuser, ein Sozialkaufhaus, einen Sonderpostenmarkt und eine winzige Postfiliale. Genau das, was er brauchte, um in Ruhe nachzudenken. Hier hielt ihm niemand Vorträge oder gab ihm Ratschläge, die er nicht wollte. Hier kannte ihn niemand …
Plötzlich schrie eine junge Frau in Tanktop und Shorts auf, rannte auf ihn zu und umarmte ihn so heftig, dass er fast das Gleichgewicht verlor. „Du bist zurück! Ich freue mich ja so, dich wiederzusehen!“
Aaron war es nicht gerade unangenehm, eine zierliche Blondine in der Armen zu halten, aber leider hatte er keine Ahnung, wer sie war. „Ich …“
Sie legte den Kopf zurück, lächelte ihn an, und einige Sekunden lang verschlug es ihm die Sprache. Verdammt hübsch war sie. Strahlend blaue Augen unter langen dunklen Wimpern. Zwei hinreißende Grübchen. Eine Stupsnase und volle Lippen, bei deren Anblick seine Knie weich wurden. Der Ausschnitt ihres Tops ließ wundervolle Brüste erahnen.
„Du willst zum Bell Resort, richtig?“, fragte sie. „Bist du hier, weil ich dir die Broschüre geschickt und dich daran erinnert habe, dass du immer willkommen bist?“
Aaron war tatsächlich auf dem Weg zumBell Resort and Marina, aber er hatte sich nicht angemeldet. Die persönliche Einladung, die zur Broschüre gehörte, hatte er