1. KAPITEL
„Bitte, bitte, bitte – lass mich nicht im Stich!“
Nein, es war nicht der Mann ihrer Träume, dem Annas Flehen galt. Es war ihr Auto. Der klapprige rostbraune Blechhaufen, den die ominöse Autovermietung ihr nach ihrer Ankunft am Flughafen von Marseille angedreht hatte.
„Voilà, unser Ameisenpreisauto – perfekt fürmademoiselle!“, hatte der schmierige Typ am Schalter sie mit augenscheinlich typisch französischem Charme übers Ohr gehauen.
Und nun? Aus der mit unzähligen Rostflecken übersäten Motorhaube des Ameisenpreisautos stiegen aus heiterem Himmel weiße Rauchschwaden auf, während Anna die Landstraße entlangruckelte, die sich durch gelbe Felder und sonnenverbrannte Wiesen schlängelte. Wieso nur mussten immer ihr solche Sachen passieren?
Und das gleich am Anfang, am allerersten Tag. Sie hatte ihre letzten Ersparnisse geopfert, um sich diese eine mickrige Woche zu gönnen. Nur raus aus allem, weg aus ihrem kleinen Dorf in Cornwall, vergessen, was zu Hause vorgefallen war. Allein bei dem Gedanken daran schnürte sich ihr Herz immer noch zusammen.
„Liebst du mich nicht mehr?“, hatte sie ihn gefragt. Es lag erst ein paar Tage zurück.
„Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich dich je geliebt habe.“
Wie konnte er nur so etwas zu ihr sagen!
Dieser … Mistkerl! Anna verstand die Welt nicht mehr. Sie brauchte dringend etwas Abstand. Eine Woche lang würde sie nichts anderes tun, als die hintersten Winkel der Provence zu erkunden und die hintersten Winkel ihrer Seele für ein Weilchen so gut es ging zu ignorieren. Sofern möglich, denn es war das erste Mal in ihrem Erwachsenenleben, dass sie ohne ihn unterwegs war. Ohne ihn – den Mann ihrer Träume: Tom. Diese Woche würde ihr zeigen, wer oder was noch von ihr übrig war, ohne ihre bessere Hälfte.
Zumindest ihre zweite große Liebe konnte nicht davonlaufen: Südfrankreich. Anna sprach fließend Französisch, und als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, eines Tages hier zu leben, unter der Sonne des Südens. Jeden Tag barfuß über den Rasen zu laufen. Den Duft der seidig warmen Luft einzuatmen. Einfach glücklich zu sein. Auch das: Träume eben. Nun, zumindest für eine Woche hatten ihre Ersparnisse noch gereicht. Das war besser als gar nichts, dachte sie.
Ein hartes Jahr lag hinter ihr.
Beruflich – eine Katastrophe.
Privat – ein Desaster.
Vor wenigen Tagen war das Schuljahr zu Ende gegangen. Und mit diesem ein weiteres unwiederbringliches Kapitel ihres Lebens: Das Kapitel ihres heiß geliebten Traumjobs, das sie doch erst vor wenigen Jahren voller Glückseligkeit und Zuversicht aufgeschlagen hatte. Wegrationalisiert, einfach so, der englische Staat musste sparen in der Krise. Und was nun? Was machte eine siebenundzwanzigjährige Ex-Grundschullehrerin mit Leib und Seele in einem kleinen Dorf in Cornwall, wenn nicht unterrichten? Nun, vielleicht bekam sie eigene Kinder? Das wäre noch eine Alternative gewesen.
Aber Tom hatte es vermasselt. Und zwar gründlich.
Kawumm! Ein lauter Knall riss Anna aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht ihr ganzes Budget in einen Mietwagen investieren wollen und sich deshalb für einen bezahlbaren fahrbaren Untersatz entschieden. Bis zu diesem denkwürdigen Moment hatte ihr Hauptaugenmerk dabei eindeutig auf dem Wortbezahlbar gelegen, aber nun wanderte es panisch hinüber zufahrbar.
„Oh Gott, nein – nicht hier, nicht jetzt!“, flüsterte sie, um daraufhin ein ohrenbetäubend lautes Zischen zu vernehmen, während der weiße Rauch vor ihr dichter und dichter wurde und nunmehr wie aus einem Schornstein hinauf in den wolkenlosen Himmel Südfrankreichs quoll.
Aus einemfahrenden Schornstein, um genau zu sein.
Anna betete, dass der Wagen nicht zu brennen anfing oder gar wie in einem Action-Film explodierte. Hektisch würgte sie den Motor ab und stoppte am Rande eines Feldes. Nun: Im Grunde war alles hier Feld – weit und breit. Keine Menschen, keine Häuser, nichts außer endloser Natur und zwitschernden Vögeln, die fröhlich über dem Pulverfass kreisten, in dem sie immer noch angeschnallt hinter dem Steuer klemmte.
„Wenigstens sind es keine Aasgeier“, sinnierte sie laut vor sich hin, ihren angeborenen schwarzen Humor reaktivierend. Zu allem entschlossen ergriff sie ihre Tasche, die auf dem Beifahrersitz lag, riss die Fahrertür auf und sprang filmreif ins Freie. Um sich daraufhin ein paar Meter vom Auto zu entfernen, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
Wenn doch nur Tom jetzt hier wäre! Schon wieder wanderten ihre Gedanken verbotenerweise zu ihm, der in diesem Moment zu Hause in Cornwall möglicherweise mitihr, deren Namen auszusprechen Anna sich verboten hatte, den Strand entlangspazierte, Arm in Arm.
„Keine Angst, Schatz. Das ist nur ein bisschen heiße Luft – nichts weiter“, hätte er gesagt. Er hätte die Motorhaube geöffnet und mit gerunzelter Stirn fachmännisch auf das qualmende Interieur gestarrt. So als verstünde er etwas von Motoren. Dann hätte er sie in den Arm genommen und sie geküsst. So als würde alles gut werden.
Ja, wenn … Wenn das Wörtchen wenn nicht wär’ …
„Anna! Hör auf damit!“, ermahnte sie sich. Sie hatte sich vorgenommen, in dieser Woche nichtein Mal an ihn zu denken. Doch kaum war sie in Südfrankrei