1. KAPITEL
Jeannette Williams stellte den Staubsauger in die Abstellkammer und schloss die Tür. Nervös zog sie das Band um ihren Pferdeschwanz enger. Sie war sehr erschöpft und müde. Noch müder, als wenn sie den ganzen Tag lang hinter ihrem viereinhalbjährigen Sohn hergelaufen wäre. Wenn sie nicht bis vier Uhr mit ihrer Arbeit in diesem auf einem Berg gelegenen Holzhaus fertig wurde, konnte sie das ihren Job kosten.
In der Küche kam es ihr vor, als hätte sie plötzlich nur noch Daumen statt Finger. Denn als sie den teuren gemahlenen Kaffee in eine Dose schütten wollte, rutschte ihr die glatte Packung aus den Händen und landete auf dem Boden. Überall auf dem Küchentresen und dem Boden hatte sich das Kaffeepulver verteilt. Mist!
Doch Jeannette war daran gewöhnt, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Und sie hatte auch Übung darin, etwas aufzusammeln – Scherben zum Beispiel. Seit ihr Verlobter noch vor der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes gestorben war, gehörte das zu ihrem Alltag. Aber heute fiel es ihr schwer, die Fassung zu bewahren. Sie hatte noch eine komplette Abendschicht als Kellnerin in einem Restaurant vor sich. Eine Arbeit, die sie nicht besonders mochte. Sie war kurz davor aufzugeben. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Seit ihr Sohn Jonah auf der Welt war, hatte sie den Begriff ‚aufgeben‘ aus ihrem Wortschatz gestrichen.
Sie holte Kehrblech und Handfeger aus der Abstellkammer, kniete sich hin und säuberte die Fliesen.
Plötzlich hörte sie von draußen ein Geräusch. Sie hob den Kopf in dem Moment, als sich die Hintertür zur Küche öffnete. Ein großer Mann mit einem schwarzen Stetson auf dem Kopf stand im Türrahmen und schaute sie überrascht an. Offenbar war er genauso erstaunt über diese unerwartete Begegnung wie sie. Kinn und Wangen seines markanten Gesichts zierte ein Drei-Tage-Bart. Die Ärmel seines Baumwollhemdes waren hochgerollt und entblößten muskulöse Unterarme. Seine braunen Stiefel waren staubig. Für einen endlos scheinenden Moment blickte sie in seine grünen Augen. Er sah zutiefst traurig aus. Doch eine Sekunde später war sie überzeugt davon, sich getäuscht zu haben. Denn sein Blick drückte nichts anderes aus als Ärger und Ungeduld.
„Es tut mir leid, dass ich noch hier bin“, beeilte sie sich zu sagen. „Es dauert nur noch ein paar Minuten. Ich war ein bisschen spät dran und wollte gerade gehen, da habe ich versehentlich den Kaffee verschüttet …“
„Verschwinden Sie“, knurrte er unhöflich.
„Ich brauche nur noch zwei Minuten, wirklich“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen.
„Gehen Sie“, befahl er knapp. „Ich mache das selbst.“
Aus ihren schriftlichen Anweisungen wusste sie, dass diesem Kunden seine Privatsphäre heilig war. Er war ein alleinstehender Mann, der keinerlei Störungen wünschte. Jeannette spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und blinzelte sie schnell weg. Jetzt zu weinen wäre der Gipfel der Demütigung gewesen. Sie brach ja auch nicht in Tränen aus, wenn bestimmte männliche Gäste sie mit widerlich anzüglichen Kommentaren bedachten. Aber dieser Mann rührte etwas in ihr an. Es war die traurige Aura, die durch seine schroffe und abweisende Fassade hindurchschimmerte. Oder ihr Gefühlsausbruch lag schlichtweg daran, dass sie zu Tode erschöpft war und allmählich verrückt wurde. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte sie sich eine einzelne verräterische Träne von der Wange.
Dem Mann, der hier wie ein Einsiedler lebte, entging ihre Gemütslage offenbar nicht, denn er stieß ungehalten den Atem aus, schloss die Tür und trat neben sie. Er war fast einen Meter neunzig groß, breitschultrig und sehr durchtrainiert.
Jeannette lief ein Schauer über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, warum. Aufmerksam studierte er ihr Gesicht.
Dann ließ er sich ebenfalls auf die Knie nieder. „Ich helfe Ihnen, diese Bescherung zu beseitigen.“
Das hatte sie nun nicht erwartet. Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich die guten ebenso wie die schlechten Dinge im Leben meistens ereigneten, wenn man gar nicht damit rechnete. Für eine kurze Weile arbeiteten sie schweigend, aber einträchtig zusammen. Wä